dbb magazin 9/2024

Tarifabschluss aus diesem Grund eine Inventur ihrer Betriebsvereinbarungen durchführen, um keine „bösen Überraschungen“ zu erleben. Die Tarifüblichkeit wird ferner nur anhand der Tarifverträge festgestellt, in deren Geltungsbereich der Betrieb fällt. Es ist also nicht „irgendein“ in Deutschland abgeschlossener Tarifvertrag maßgebend. Regelungssperre und Mitbestimmungsrecht Die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 BetrVG kann aber entfallen, wenn für die zu regelnde Angelegenheit ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 BetrVG besteht. Auch hier kann es zu zuweilen recht heiklen Abgrenzungsproblemen kommen. Grundsätzlich hat das Bundesarbeitsgericht entschieden, dass § 77 Abs. 3 BetrVG eine Tarifsperre nicht nur für sogenannte materielle, sondern für alle Arbeitsbedingungen enthält (Urteil vom 9. April 1991, Az.: 1 AZR 406/90). Es geht also nicht nur um Arbeitsentgelte. Die Formulierung „sonstige Arbeitsbedingungen“ in § 77 Abs. 3 BetrVG erfasst also auch formelle Arbeitsbedingungen wie die Verteilung der Arbeitszeit und die Lage der Pausen. Sinn und Zweck des § 77 Abs. 3 BetrVG Durch Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz ist die Koalitionsfreiheit als Freiheitsrecht geschützt. Diese wird schon dann beeinträchtigt, wenn Abreden oder Maßnahmen getroffen werden, die aufgrund ihres erklärten Geltungsanspruchs faktisch an die Stelle der tariflichen Regelung treten sollen. Dies ist auch der Fall, wenn eine Betriebsvereinbarung tariflich geregelte Normen als kollektive Ordnung verdrängt und sie damit ihrer zentralen Funktion beraubt (Bundesarbeitsgericht, 17. Mai 2011, Az.: 1 AZR 473/09). Führt eine Betriebsvereinbarung also zu dem Ergebnis, ob gewollt oder ungewollt, dass Tarifnormen verdrängt und ersetzt werden, sind sie rechtswidrig. Man stelle sich einen schwachen Betriebsrat vor, der mit einem unflätigen Arbeitgeber die guten Tarifverträge einer starken Gewerkschaft ad absurdum führt, indem er die tarifvertraglichen Ansprüche der Arbeitnehmenden absenkt. Der „Lesezirkel“ empfiehlt dazu den Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 20. April 1999, Az.: 1 ABR 72/98. Diese „Burda-Entscheidung“ beleuchtet außerdem eine Reihe weiterer Rechtsfragen wie die arbeitsrechtliche Günstigkeit. Ebenso verhält es sich, wie im eingangs dargestellten Text, wenn die Geltung von Tarifnormen ausgedehnt würde. Der Betriebsrat darf keine beitragsfreie Ersatzgewerkschaft sein. Er darf somit keine tarifvertragliche Regelung mit einer Betriebsvereinbarung auf alle Arbeitnehmenden im Betrieb ausdehnen. Eine Betriebsvereinbarung gilt unmittelbar und zwingend für alle Arbeitnehmenden in ihrem Geltungsbereich. Ein Tarifvertrag gilt aber nur unmittelbar und zwingend für die Mitglieder der tarifschließenden Parteien, also nicht für alle Arbeitnehmenden im Betrieb. Der Betriebsrat würde somit dafür sorgen, dass eine Tarifnorm für alle Arbeitnehmenden als unmittelbares und zwingendes Recht anzuwenden ist. Das darf er nicht. Deshalb sind Bezugnahmen auf tarifliche Regelungen oder deren wörtliches oder sinngemäßes Zitat unwirksam, weil sie gegen den tariflichen Regelungsvorbehalt verstoßen. Unser kleiner Text eingangs des Artikels wäre also unwirksam, jedenfalls hinsichtlich der Bezugnahme auf die Tarifnorm. Der zweite Satz ergibt ohne den ersten Satz keine sinnvolle, geschlossene Regelung und ist damit ebenfalls unwirksam. Regelungslücken und Öffnung Zuweilen wird argumentiert, dass die Tarifvertragsparteien eine Regelungslücke gelassen haben, also eine Öffnung, die durch eine Betriebsvereinbarung ausgefüllt werden kann. Kurz gesagt: Es ist ausgeübte Tarifautonomie, nicht jede regelungsfähige Facette einer Sachgruppe auch tatsächlich im Tarifvertrag zu regeln. Ist ein Aspekt also nicht geregelt, kann dies nicht als Öffnung für den Abschluss von Betriebsvereinbarungen gedeutet werden. Das gilt sogar dann, wenn die Tarifvertragsparteien tatsächlich einmal etwas vergessen haben sollten. Ein „Tarifvertrag (muss) den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zulassen“. Dies bewirken die Tarifvertragsparteien, indem sie Öffnungsklauseln in den Tarifvertrag aufnehmen. Diese können generell ausgestaltet (zum Beispiel: „Durch Betriebsvereinbarung kann hiervon abgewichen werden.“ Damit wäre auch eine Verschlechterung der Tarifnorm möglich.) oder konditioniert sein („Zugunsten des Arbeitnehmers kann durch Betriebsvereinbarung hiervon abgewichen werden.“). Öffnungsklauseln können auch zeitliche oder inhaltliche Einschränkungen oder die Einschränkung auf bestimmte Tätigkeiten bewirken. Wurde eine Öffnungsklausel vereinbart, kann die geöffnete Tarifnorm, aber nur diese, auch zum Bestandteil der Betriebsvereinbarung gemacht werden. Günstigkeitsprinzip nicht entscheidend Als Argument wird oft herangezogen: „Aber das ist doch besser für die Arbeitnehmenden!“ Was für Arbeitnehmende besser ist und was nicht, steht nie sicher und für alle im Betrieb fest. Wer sich schon einmal mit dem tarifrechtlichen Günstigkeitsprinzip, das es übrigens im Verhältnis zwischen Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung nicht gibt, beschäftigt hat, wird sich nach einer Stunde die Haare raufen (siehe Hinweis auf die „Burda-Entscheidung“ des Bundesarbeitsgerichts). Es geht nicht darum, Arbeitnehmenden Vorteile zu verwehren, den Betriebsräten das Leben unnötig schwer zu machen oder die Betriebsräte in ihren Gestaltungsmöglichkeiten einzuschränken. Es geht darum, Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen einheitlich zu gestalten. Diese Aufgabe ist gemäß Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz von Verfassungsrang. Der tarifliche Regelungsvorbehalt grenzt die Aufgaben der Tarifvertragsparteien von denen der Betriebsparteien ab. Damit wird auf keinen Fall die Bedeutung der Betriebsräte geschwächt, sondern es wird Ordnung geschaffen. Es ist auch nicht einmal nötig, tarifliche Regelungen auf betrieblicher Ebene zu verbessern oder auszudehnen. Die Betriebsräte haben so viele Möglichkeiten, mit denen sie die Arbeitsbedingungen ihrer Mitarbeitenden positiv gestalten können, dass dieses weite Feld aus Mitbestimmungs- und Initiativrechten sehr viele Einflussmöglichkeiten erschließt. Tarifvertrags- und Betriebsparteien müssen über die Klammer der Gewerkschaft eine Einheit bilden. Durch diese Einheit wird eine enge Abstimmung aller Akteure sowie eine einheitliche und zielgerichtete Politik der Gewerkschaft im Sinne der Mitglieder ermöglicht. Denn letztlich haben alle das gleiche Ziel: die Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeitnehmenden zu bessern. Und dies wirkt sich am Ende des Tages auch positiv auf den Organisationsgrad aus, welcher wiederum relevant ist für sehr gute Tarifabschlüsse. Thomas Gelling, stellvertretender Vorsitzender der dbb bundestarifkommission INTERN 29 dbb magazin | September 2024

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