dbb magazin 10/2024

dbb magazin Digitalisierung | Nachholbedarf als Chance Interview | Ralf Wintergerst, Präsident des Digitalverbandes Bitkom Reportage | Öffentliche Bibliotheken: Schwungvolle Transformation 10 | 2024 Zeitschrift für den öffentlichen Dienst

Digitalisierung light reicht nicht Die Verwaltungsdigitalisierung in Deutschland kommt kaum voran. Gründe dafür gibt es viele. Die föderale Struktur Deutschlands erschwert die Koordination zwischen den verschiedenen Verwaltungsebenen in Bund, Ländern und Kommunen. Unterschiedliche Zuständigkeiten führen zu uneinheitlichen Standards und redundanten Prozessen. Die komplexe Gesetzgebung mit einem engmaschigen Netz an Vorschriften verschärft die Probleme. Oft müssen Gesetze und Verordnungen angepasst oder geändert werden, bevor eine digitale Lösung umgesetzt werden kann. Das sorgt für lange Entscheidungswege. Weiter hat der Schutz von persönlichen Daten in Deutschland einen besonders hohen Stellenwert. Die strengen Auflagen, etwa innerhalb der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), erfordern umfassende Sicherheitskonzepte. Zur Koordinierung und zur technischen Umsetzung der Digitalisierung fehlen der Bundesrepublik zudem IT-Spezialisten. Doch für viele von ihnen ist die Anziehungskraft der Karriere- und Einkommensmodalitäten im öffentlichen Dienst nicht gerade hoch. Und die IT selbst? Veraltet, schlecht vernetzt und zwischen den Gebietskörperschaften oft inkompatibel. Wenn Deutschland schneller zu den europäischen Spitzenreitern aufschließen will, muss mehr passieren, als Formulare elektronisch verfügbar zu machen. Digitalisierung light reicht nicht, denn eine moderne Verwaltungsinfrastruktur ist der Motor für Wirtschaft, Gesellschaft und einen funktionierenden Staat. Die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes sind bereit für den digitalen Kulturwandel – das haben Umfragen des dbb immer wieder ergeben. Aber sie können dabei nur so gut sein wie die Vorgaben aus Politik und Gesetzgebung. br 12 6 18 TOPTHEMA Digitalisierung 34 AKTUELL NACHRICHTEN Personalmangel im öffentlichen Dienst: 570 000 Beschäftigte fehlen 4 Finanzlage der Autobahn GmbH: Mit Konsolidierung droht Unterfinanzierung 5 TARIFPOLITIK Einkommensrunde 2025 für Bund und Kommunen: Regionalkonferenzen legen Fokus auf Entlastung 6 FOKUS INTERVIEW Ralf Wintergerst, Präsident des Digitalverbandes Bitkom: Eine digitale Verwaltung ist kein Nice-to-have 12 PERSONALPOLITIK Fachkräftemangel im öffentlichen Dienst: Warum KI nur ein Teil der Lösung ist 14 BILDUNG DigitalPakt 2: Gute Bildung braucht nachhaltige Lösungen 16 REPORTAGE Öffentliche Bibliotheken im digitalen Kulturwandel: Schwungvolle Transformation 18 ONLINE Onlinezugangsgesetz 2.0: Neustart mit angezogener Handbremse 22 Radikalisierung im Netz: Pipelines und Pillen im Kaninchenbau 24 INTERN JOB-PORTRAIT Lebensmittelkontrolle: Vergammelte Speisen aus dem Verkehr ziehen 26 FÜHRUNGSFOKUS Konflikte erfolgreich lösen 29 BEAMTE Serie zur Beihilfe: Wie bekomme ich mein Geld zurück? 36 Mitbestimmung bei der Lage der Arbeitszeit 36 SERVICE Impressum 41 KOMPAKT GEWERKSCHAFTEN 42 ??? STARTER © Getty Images/Unsplash.com AKTUELL 3 dbb magazin | Oktober 2024

NACHRICHTEN Personalmangel im öffentlichen Dienst 570 000 Beschäftigte fehlen Dem Staat fehlen nach aktueller Einschätzung des dbb über 570 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Aufgrund ständiger Aufgabenzuwächse sowie neuer Herausforderungen in den Bereichen Bildung, Zuwanderung und innere Sicherheit benötigen vorwiegend Länder und Kommunen zusätzliches Personal, damit sie ihre Aufgaben erfüllen können. „Auch wenn die absolute Beschäftigtenzahl im öffentlichen Dienst seit einigen Jahren wieder leicht ansteigt und aktuell rund 5,26 Millionen beträgt, spitzt sich der Personalmangel weiter zu“, sagt dbb Chef Ulrich Silberbach. Die Angaben zum Personalmangel habe eine Abfrage unter den dbb Mitgliedsgewerkschaften ergeben. Im Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ, Ausgabe vom 5. September 2024) konkretisierte Silberbach seine Befürchtungen: „Allerdings hat die Befragung vor dem Anschlag von Solingen stattgefunden. Eigentlich brauchen wir also noch mehr Leute“, so der dbb Bundesvorsitzende mit Blick auf das Sicherheitspaket, das die Bundesregierung als Reaktion auf das Messerattentat in Solingen vom 23. August 2024 auf den Weg gebracht hat. Silberbach übte deutliche Kritik an den Beschlüssen der Bundesregierung: „Das sind Placebobeschlüsse – jedenfalls dann, wenn sich die Personalausstattung von Justiz, Polizei und in den kommunalen Ausländerbehörden nicht verbessert. Dass sich Ausreisepflichtige derzeit so leicht ihrer Abschiebung entziehen können, hat ganz entscheidend damit zu tun, dass vielen Ausländerbehörden die Kapazitäten für wiederholte Abschiebeversuche fehlen, dass Verfahren ‚verfristen‘ oder Abschiebungen an Personalmangel scheitern. Die Politik packt dieses Problem nicht an.“ Dies sei symptomatisch für den Umgang der Politik mit dem öffentlichen Dienst in den vergangenen Jahren: Zwar sei die Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst zuletzt gewachsen – aber nie so schnell wie die durch die Politik vorgegebene Aufgabendichte. Silberbach: „Unsere Zahlen sind keine Wunschzahlen, sondern ergeben sich aus den Aufgaben, die die Politik uns stellt. Die Migration, die Alterung der Gesellschaft, die ‚Zeitenwende‘, um nur einige aktuelle Herausforderungen zu nennen, werden wir nur bewältigen, wenn der Staat seinen Auftrag erledigt und dafür entsprechend Personal vorhält. Es stimmt, dass wir so viele Leute niemals bekommen werden. Umso mehr muss die Politik endlich Prioritäten setzen und an anderer Stelle Aufgaben reduzieren.“ Konkret nannte er in diesem Zusammenhang unter anderem bestimmte Dokumentationspflichten in Kitas und im Gesundheitsbereich, sie müssten „reduziert und digitalisiert werden“. Silberbach warnte davor, dass eine längere Lebensarbeitszeit angesichts des Personalmangels höchstens eine freiwillige Übergangslösung sein könne: „Die Politik kann so nicht das Nachwuchsproblem lösen. Ich kann mir aber vorstellen, dass bei Bedarf, Leistung, Eignung und Befähigung sowie Interesse manche Kollegen auch über die gesetzliche Altersgrenze hinaus arbeiten. Warum sollte etwa ein Richter nicht auch mal bis 72 arbeiten – wenn er und der Dienstherr das wollen?“ Model Foto: Colourbox.de 4 AKTUELL dbb magazin | Oktober 2024

Wie konkret der Personalmangel in den einzelnen Sparten des öffentlichen Dienstes ist, wird auch in Betrachtung der Ruhestandsstatistik deutlich. 2024 gehen zwei Prozent der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes altersbedingt in den Ruhestand. In den nächsten zehn Jahren scheiden weitere 1,32 Millionen oder 27 Prozent der Kolleginnen und Kollegen aus. Rechnet man davon die erwartbaren Neueinstellungen ab, bleibt – rechnerisch – eine zusätzliche Personallücke von mehreren Hunderttausend Beschäftigten. Gleichzeitig stellen der ökologische Umbau von Gesellschaft und Wirtschaft, die Alterung der Gesellschaft sowie die zunehmende Aggression und Gewaltbereitschaft in der Bevölkerung den öffentlichen Dienst vor große zusätzliche Herausforderungen. Ob und ab wann eine durchgreifende Digitalisierung in der Verwaltung die Personalnot des öffentlichen Dienstes lindern kann, ist unklar. Zumindest kurz- und mittelfristig ist durch den Umstellungsaufwand sogar mit Mehrbedarfen zu rechnen. „Auf allen staatlichen Ebenen setzen sich die Beschäftigten nach wie vor bis an die Grenze ihrer Belastbarkeit und darüber hinaus ein und leisten großartige, hoch motivierte Arbeit. Sie dürfen dabei nicht alleingelassen werden“, fordert Silberbach. „Die Politik muss Prioritäten setzen und für eine aufgabengerechte Personalausstattung sorgen“, sagte er dem dbb magazin. _ Finanzlage der Autobahn GmbH Mit Konsolidierung droht Unterfinanzierung Mit Blick auf die Haushaltsprobleme bei der Autobahn GmbH hat dbb Vize Volker Geyer vor möglichen Einschnitten beim Personal gewarnt. Die bundeseigene Autobahn GmbH hat am 5. September 2024 in einer Mitarbeiterinformation der Geschäftsführung ein „Konsolidierungsprogramm“ angekündigt. Im vorliegenden Entwurf des Bundeshaushalts 2025 habe der Mittelbedarf der Autobahngesellschaft nicht vollständig abgedeckt werden können. Volker Geyer, stellvertretender Bundesvorsitzender des dbb und Vize-Aufsichtsratsvorsitzender der Autobahn GmbH, warnt die Bundesregierung eindringlich vor den Folgen einer drohenden Unterfinanzierung der Gesellschaft. Gegenüber der Deutschen Presse-Agentur (dpa) sagte er: „Der Autobahn GmbH fehlen im kommenden Jahr 600 Millionen Euro, das setzt sich in den nächsten Jahren fort.“ Gleichzeitig steigen die Baukosten. Es drohen Verzögerungen, unter anderem bei der Sanierung von Brücken. „Da wird es zu Einschnitten kommen müssen, weil uns bereits die Planungsmittel für die Brückenmodernisierung fehlen.“ Sollte die Geschäftsführung der Autobahn GmbH versuchen, den Haushalt über Personalabbau zu entlasten, werde das „auf den extremen Widerstand des dbb stoßen“, so Geyer. „Ganz im Gegenteil, wir müssen eigentlich noch Personal aufbauen, vorrangig im Betriebsdienst. Das sind die Kolleginnen und Kollegen, die in den Autobahnmeistereien arbeiten. Die fahren raus, wenn ein Unfall auf der Autobahn passiert, und sperren die Unfallstelle. Die machen den Winterdienst, schneiden die Bäume und Gebüsche und machen Baustellenabsicherungen. Die halten den Betrieb am Laufen.“ Außerdem befürchtet der dbb Vize Probleme, unter anderem bei den Investitionen in die Tunnelsanierung, die geplante Lkw-Stellplatzerweiterung, den Lärmschutz und den Fuhrpark der Autobahngesellschaft. „Der Fuhrpark ist teilweise überaltert und müsste erneuert werden. Wir wollen auch auf E-Mobilität umstellen. Wir haben ein großes Programm zum Aufbau von Ladesäulen an den Autobahnen. Aus meiner Sicht ist für all diese notwendigen und wichtigen Maßnahmen dann kein Geld mehr da.“ _ Foto: Birgit Reitz-Hofmann/Colourbox.de Angesichts dieser Herausforderungen wird deutlich, wie sich der seit Jahren herbeigeführte und vom dbb vielfach kritisierte Personalmangel auswirkt. Die Politik muss Prioritäten setzen und für eine aufgabengerechte Personalausstattung sorgen. Aktuelle Personalbedarfe öffentlicher Dienst Bundespolizei 10.000 Landespolizei 42.000 Verteidigung 25.000 Steuerverwaltung 41.000 Zoll 5.200 Schulen 105.000 Kitas 96.500 Kommunalverwaltungen 108.500 (allg. Verwaltung, Ausländerbehörden, Bauämter, Jugendämter, Ordnungsämter, Sozialämter/Soziale Arbeit, Feuerwehren) Öffentlicher Gesundheitsdienst 12.500 Kranken- und Altenpflege 115.400 Lebensmittelkontrolle 1.500 Arbeitsagenturen/Jobcenter 2.500 Justiz (Richter/innen, Justizvollzug, Verwaltung) 7.800 __________________________________________________________________ 572.900 *Bei der dbb-Erhebung zum Personalmangel im öffentlichen Dienst geht es nicht nur um tatsächlich offene Stellen in den Personalplänen, sondern um die Zahl der für eine effiziente Aufgabenerledigung benötigten Kolleginnen und Kollegen. Stand: August 2024 Angesichts dieser Herausforderungen wird deutlich, wie sich der seit Jahren herbeigeführte und vom dbb vielfach kritisierte Personalmangel auswirkt. Die Politik muss Prioritäten setzen und für eine aufgabengerechte Personalausstattung sorgen. Aktuelle Personalbedarfe öffentlicher Dienst Bundespolizei 10.000 Landespolizei 42.000 Verteidigung 25.000 Steuerverwaltung 41.000 Zoll 5.200 Schulen 105.000 Kitas 96.500 Kommunalverwaltungen 108.500 (allg. Verwaltung, Ausländerbehörden, Bauämter, Jugendämter, Ordnungsämter, Sozialämter/Soziale Arbeit, Feuerwehren) Öffentlicher Gesundheitsdienst 12.500 Kranken- und Altenpflege 115.400 Lebensmittelkontrolle 1.500 Arbeitsagenturen/Jobcenter 2.500 Justiz (Richter/innen, Justizvollzug, Verwaltung) 7.800 __________________________________________________________________ 572.900 *Bei der dbb-Erhebung zum Personalmangel im öffentlichen Dienst geht es nicht nur um tatsächlich offene Stellen in den Personalplänen, sondern um die Zahl der für eine effiziente Aufgabenerledigung benötigten Kolleginnen und Kollegen. Stand: August 2024 Angesichts dieser Herausforderungen wird deutlich, wie sich der seit Jahren herbeigeführte und vom dbb vielfach kritisierte Personalmangel auswirkt. Die Politik muss Prioritäten setzen und für eine aufgabengerechte Personalausstattung sorgen. Aktuelle Personalbedarfe öffentlicher Dienst Bundespolizei 10.000 Landespolizei 42.000 Verteidigung 25.000 Steuerverwaltung 41.000 Zoll 5.200 Schulen 105.000 Kitas 96.500 Kommunalverwaltungen 108.500 (allg. Verwaltung, Ausländerbehörden, Bauämter, Jugendämter, Ordnungsämter, Sozialämter/Soziale Arbeit, Feuerwehren) Öffentlicher Gesundheitsdienst 12.500 Kranken- und Altenpflege 115.400 Lebensmittelkontrolle 1.500 Arbeitsagenturen/Jobcenter 2.500 Justiz (Richter/innen, Justizvollzug, Verwaltung) 7.800 __________________________________________________________________ 572.900 *Bei der dbb-Erhebung zum Personalmangel im öffentlichen Dienst geht es nicht nur um tatsächlich offene Stellen in den Personalplänen, sondern um die Zahl der für eine effiziente Aufgabenerledigung benötigten Kolleginnen und Kollegen. Stand: August 2024 herbeigeführte und vom dbb vielfach kritisierte Personalmangel auswirkt. Die Politik muss Prioritäten setzen und für eine aufgabengerechte Personalausstattung sorgen. Aktuelle Personalbedarfe öffentlicher Dienst Bundespolizei 10.000 Landespolizei 42.000 Verteidigung 25.000 Steuerverwaltung 41.000 Zoll 5.200 Schulen 105.000 Kitas 96.500 Kommunalverwaltungen 108.500 (allg. Verwaltung, Ausländerbehörden, Bauämter, Jugendämter, Ordnungsämter, Sozialämter/Soziale Arbeit, Feuerwehren) Öffentlicher Gesundheitsdienst 12.500 Kranken- und Altenpflege 115.400 Lebensmittelkontrolle 1.500 Arbeitsagenturen/Jobcenter 2.500 Justiz (Richter/innen, Justizvollzug, Verwaltung) 7.800 __________________________________________________________________ 572.900 *Bei der dbb-Erhebung zum Personalmangel im öffentlichen Dienst geht es nicht nur um tatsächlich offene Stellen in den Personalplänen, sondern um die Zahl der für eine effiziente Aufgabenerledigung benötigten Kolleginnen und Kollegen. Stand: August 2024 Aktuelle Personalbedarfe im öffentlichen Dienst* AKTUELL 5 dbb magazin | Oktober 2024

TARIFPOLITIK Einkommensrunde 2025 für Bund und Kommunen Regionalkonferenzen legen Fokus auf Entlastung Im Oktober wird der dbb seine Forderung für die Einkommensrunde 2025 mit Bund und Kommunen vorstellen. Davor steht wie immer ein intensiver Meinungsaustausch. Dafür hat der dbb das bewährte Format der Regionalkonferenzen gewählt, um mit den Mitgliedern der Fachgewerkschaften über mögliche Forderungen zu diskutieren. Die ersten beiden von sieben Konferenzen haben am 2. und 3. September 2024 in Düsseldorf und Hamm stattgefunden. Der stellvertretende Bundesvorsitzende und Fachvorstand Tarifpolitik Volker Geyer sagte in Düsseldorf: „Die Belastung der Kolleginnen und Kollegen wächst: bei der Arbeit, weil Politik ihnen ständig zusätzliche Aufgaben auflädt, während immer mehr unserer erfahrenen Leute in den Ruhestand gehen. Gleichzeitig sind die Lebenshaltungskosten weiterhin hoch und steigen weiter – man denke nur an die steigenden Mieten in vielen Ballungszentren.“ Entlastung sei deshalb Roland Staude (DBB NRW), Daria Abramov (dbb jugend bund), dbb Tarifchef Volker Geyer sowie Sandra van Hermskerk (komba) und der komba Bundesvorsitzende und dbb Vize Andreas Hemsing in Düsseldorf. Düsseldorf © Anestis Aslanidis © Friedhelm Windmüller (2) 6 AKTUELL dbb magazin | Oktober 2024

dringend notwendig. Sowohl durch höhere Einkommen als auch durch attraktive und flexible Arbeitszeitmodelle. So könne der öffentliche Dienst auch interessanter für Nachwuchskräfte werden. „Gerade für junge Menschen ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf oft das entscheidende Kriterium bei der Jobwahl. Das alles werden wir mit Bund und Kommunen besprechen müssen.“ Geyer wies darauf hin, dass die Arbeitgeberseite unter enormem Druck steht: „Dass viele Kommunen klamm sind, ist leider schon fast ein Dauerzustand geworden – wir können aber nicht zulassen, dass das einseitig zulasten der Beschäftigten geht. Und wir alle haben jüngst erlebt, wie der Streit um den Haushalt die Ampel auf Bundesebene fast zerlegt hätte.“ Die Forderungen der Gewerkschaften würden kaum Jubel bei Kämmerern und Finanzministern auslösen. „Aber wenn dieses Land überhaupt eine Chance haben soll, die anstehenden Herausforderungen zu meistern, dann geht das nur mit einem stabilen, funktionsfähigen und motivierten öffentlichen Dienst. Das muss allen klar sein, ob in den Rathäusern oder in der Bundesregierung.“ Der stellvertretende dbb Bundesvorsitzende Andreas Hemsing unterstrich: „Bei Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen ist Entlastung ein ganz wesentliches Thema – und zwar in allen Dienststellen und Betrieben des öffentlichen Dienstes. Klar ist aber: Die berechtigten Forderungen der Beschäftigten sind schon oft genug auf taube Ohren bei den Arbeitgebenden gestoßen. Deshalb müssen wir bereit sein, für unsere Anliegen einzustehen – nicht nur am Verhandlungstisch, sondern zur Not auch mit Protest auf der Straße.“ Die Beschäftigten könnten dabei auf breite Unterstützung aus der Bevölkerung hoffen, denn dort seien es die Menschen ebenso leid wie unsere Kolleginnen und Kollegen, „dass unser kaputtgesparter öffentlicher Dienst nur noch für eine Schön-WetterDaseinsfürsorge taugt“. Roland Staude, der Vorsitzende des DBB Landesbundes Nordrhein-Westfalen (DBB NRW), betonte die Bedeutung der Einkommensrunde für Tarifbeschäftigte sowie Beamtinnen und Beamte gleichermaßen: „Auch wenn die Regelungen tatsächlich und rechtlich anders ausgestaltet sind als im Tarifbereich, muss natürlich am Ende auch für die Beamtinnen und Beamten eine angemessene Erhöhung der Besoldung sowie eine echte Entlastung stehen. Damit wir das schaffen, müssen wir jede Einkommensrunde als gemeinsames Projekt beider Statusgruppen begreifen und solidarisch gemeinsam für unsere Interessen eintreten.“ Waldemar Dombrowski, zweiter Vorsitzender und Fachvorstand Beamtenpolitik des dbb, stellte bei der Regionalkonferenz am 3. September 2024 in Hamm klar, dass ein funktionsfähiger öffentHamm Nürnberg BBB-Chef Rainer Nachtigall in Nürnberg. Der zweite Vorsitzende und Fachvorstand Beamtenpolitik des dbb, Waldemar Dombrowski. © Friedhelm Windmüller (2) © Anestis Aslanidis (3) 8 AKTUELL dbb magazin | Oktober 2024

licher Dienst nur mit motivierten Beschäftigten zu haben sei: „Was für die Tarifbeschäftigten gilt, ist für die Beamtinnen und Beamten des Bundes ebenso richtig: Die Einkommen müssen deutlich steigen, damit der Bund als Arbeitgeber attraktiv bleibt. Deshalb muss der Tarifabschluss systemgerecht auf die Beamtinnen und Beamten sowie Versorgungsempfängerinnen und Versorgungsempfänger des Bundes übertragen werden. Daneben brauchen wir für die Bundesbeamtinnen und -beamten dringend eine spürbare Entlastung. Schon seit 2006 gilt hier eine Wochenarbeitszeit von 41 Stunden. Diese Sonderbelastung muss endlich abgeschafft werden.“ Rainer Nachtigall, Vorsitzender des Bayerischen Beamtenbundes (BBB), betonte am 9. September 2024 in Nürnberg: „Die hervorragende Arbeit, welche die Tarifbeschäftigten sowie die Beamtinnen und Beamten gleichermaßen Tag für Tag leisten, und die immense Verantwortung, die sie für das Funktionieren unserer Gesellschaft tragen, sind unbezahlbar. Es wird daher unsere gemeinsame Aufgabe in der nächsten Einkommensrunde sein, für eine entsprechende Vergütung und gute Arbeitsbedingungen zu sorgen, die diesem Einsatz gerecht werden. Um erfolgreich Druck auf die Arbeitgebenden ausüben zu können, brauchen wir Rückenwind von jeder und jedem Einzelnen!“ Zentrales Ziel für die Kolleginnen und Kollegen bleibt eine faire und spürbare Entgelterhöhung. Ein weiterer Schwerpunkt der Diskussionen war der kontinuierliche Anstieg der Arbeitsbelastung in allen Bereichen des öffentlichen Dienstes. Dieser führt zu immer mehr Stress und macht langfristig krank. Hier forderten die Teilnehmenden, dass diese Belastungen endlich ernst genommen und Maßnahmen zur Entlastung umgesetzt werden. Auf den Regionalkonferenzen kristallisierte sich aber auch heraus, dass die Beschäftigten ihre berechtigten Forderungen wieder nur mit Aktionen und wahrscheinlichen Warnstreiks durchsetzen können. Das betonte Volker Geyer auch am 24. September 2024 in Mannheim, wo sich zahlreiche Mitglieder der dbb Fachgewerkschaften und Landesbünde aus Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und dem Saarland versammelt hatten: „Ich gehe davon aus, dass unsere Kernforderung die lineare Entgelterhöhung sein wird. Überdies wünschen sich die Beschäftigten, dass Sonderformen der Arbeit wie Nachtarbeit, Wechselschichtarbeit und Rufbereitschaft angemessener vergütet werden.“ Die dbb Landeschefs Kai Rosenberger (BBW Beamtenbund Baden-Württemberg) und Lilli Lenz (dbb rheinlandpfalz) sowie der Landesgeschäftsführer des dbb saar, Sascha Alles, sicherten dem dbb die tatkräftige Unterstützung ihrer Landesverbände bei möglichen Demonstrationen und Kundgebungen im Rahmen der Einkommensrunde zu. _ Volles Haus und konstruktive Diskussionen auch am 24. September in Mannheim. Fulda © Friedhelm Windmüller (2) Mannheim © Friedhelm Windmüller (2) AKTUELL 9 dbb magazin | Oktober 2024

IT-Beschaffung Bund goes iOS Das Beschaffungsamt des Bundesministeriums des Innern und für Heimat (BMI) hat mit dem Systemhaus Bechtle AG einen Rahmenvertrag über die Lieferung von bis zu 300 000 Apple Endgeräten für die gesamte deutsche Bundesverwaltung geschlossen. Der Rahmenvertrag umfasst auch die Lieferung von Zubehör sowie die Erbringung von Dienstleistungen rund um den Einsatz der mobilen Endgeräte. Bechtle ist Apple Authorised Enterprise Reseller (AAER), und bietet umfassende, spezialisierte Lösungen für Geschäftskunden an, die auf der gesamten Bandbreite der iOS- und Mac-Technologie basieren. Der Gesamtauftragswert beläuft sich auf bis zu 770 Millionen Euro und hat eine Laufzeit bis Ende 2027. Damit können alle bundesbehördlichen Bedarfsträger exklusiv über Bechtle iPhones und iPads, die mit der vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) für den Dienstgebrauch freigegebenen Plattform unter dem Projekt indigo (iOS Native Devices in Government Operation) zugelassen sind, beziehen. Bechtle realisiert den Vertrag als Hauptauftragnehmer mit seinem langjährigen Herstellerpartner Apple sowie dem ITDienstleister Materna für die Implementierung einer indigo-­ konformen Lösung. Der Rahmenvertrag zielt darauf ab, die Modernisierung der IT-Infrastruktur der Bundesverwaltung maßgeblich voranzutreiben. Durch den Einsatz von nativen iOS Geräten soll eine hochsichere und effiziente Kommunikationsinfrastruktur geschaffen werden, die speziell auf die Anforderungen des öffentlichen Sektors zugeschnitten ist. Die Apple iOS- und iPadOS-Plattformen bieten eine umfassende Kombination aus integrierten Sicherheitsfunktionen, regelmäßigen Updates, hardwarebasierter Verschlüsselung und strengen Datenschutzrichtlinien. Sie ist vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) freigegeben für den sicheren Austausch vertraulicher Inhalte, die als Verschlusssache und „Nur für den Dienstgebrauch“ (VS-NfD) eingestuft sind. Bechtle beliefert die Bedarfsträger zudem mit Zubehör und unterstützt mit Dienstleistungen von der Beratung über die Implementierung bis zum Betrieb der mobilen Umgebungen, einschließlich User-Support. Das seit vielen Jahren im Behördenbereich tätige Bechtle IT-Systemhaus in Bonn übernimmt bundesweit die operative Umsetzung und Steuerung des Projekts. „Mit der Bereitstellung einer einheitlichen Geräteplattform schaffen wir die Grundlage für eine noch effizientere mobile Zusammenarbeit aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesverwaltung. Gleichzeitig etablieren wir einen hohen Sicherheitsstandard, der in technischer wie organisatorischer Hinsicht allen Anforderungen der Verwaltungstätigkeit entspricht“, sagt Dr. Markus Richter, Staatssekretär im Bundesministerium des Innern und für Heimat und Beauftragter der Bundesregierung für Informationstechnik. Michael Guschlbauer, Vorstand IT-Systemhaus und Managed Services, Bechtle AG: „Die Rahmenvereinbarung unterstreicht unsere Kompetenz und unser Engagement, die Bundesverwaltung mit zuverlässigen und hochsicheren IT-Lösungen zu unterstützen. Die enge Partnerschaft mit Apple ist dabei ein zentraler Faktor, um exzellente Technologien und Services zu bieten. Wir freuen uns, gemeinsam mit unserem Partner Materna einen wesentlichen Beitrag zur Digitalisierung des öffentlichen Sektors zu leisten.“ _ © Leon Seibert/Unsplash.com NACHRICHTEN 10 FOKUS dbb magazin | Oktober 2024

INTERVIEW Ralf Wintergerst, Präsident des Digitalverbandes Bitkom Eine digitale Verwaltung ist kein Nice-to-have Bitkom hat sich zum Ziel gesetzt, Deutschland zu einem führenden Digitalstandort zu machen. Eine Voraussetzung dafür ist die konsequente Digitalisierung der Verwaltung. Wie bewerten Sie in dieser Hinsicht die bisherige Bilanz vom Bund und – Stichwort „Föderalismus“ – von den Ländern? Wir sind bei der Digitalisierung der Verwaltung im weltweiten Vergleich massiv hintendran – und fallen sogar immer weiter zurück. Im vergangenen Jahr hatten gerade einmal 14 Prozent der Bürgerinnen und Bürger eine Verwaltungsleistung online beantragt, das hat eine Bitkom-Befragung ergeben. Und was war die am häufigsten genutzte digitale Verwaltungsleistung? Die Online-Terminvergabe für den persönlichen Besuch auf dem Amt. Das hatten immerhin schon 61 Prozent gemacht. Und diese Bilanz liegt nicht daran, dass die Menschen die digitale Verwaltung ablehnen. Im Gegenteil: 71 Prozent sind überzeugt, dass sich mit digitalen Behördengängen Zeit sparen lässt. Und 70 Prozent glauben, dass die meisten Behördengänge problemlos auch online erledigt werden können. Diese ernüchternde Bilanz liegt auch am Föderalismus. Wir kommen einfach nicht schnell genug vom Fleck, wenn jeder immer wieder das digitale Rad neu erfindet, auch wenn zum Beispiel eine Kommune in einem anderen Bundesland längst eine funktionierende digitale Lösung entwickelt hat. Das ist auch ein Grund, warum wir mit der Smart Country Convention zusammen mit der Messe Berlin einen Ort geschaffen haben, wo genau dieser Austausch von Best Practices eine zentrale Rolle spielt. Wir haben beim Gezerre um das OZGÄnderungsgesetz in den vergangenen Monaten sehr deutlich gesehen, dass Bund und Länder viel stärker als bisher an einem Strang ziehen müssen – und zwar zusammen mit den Kommunen. Und dann bitte auch alle in eine Richtung. Was muss sich bei der Gesetzgebung und den Zuständigkeiten ändern, damit die Digitalisierung der Verwaltung endlich spürbar besser wird – sowohl für Unternehmen als auch für Bürgerinnen und Bürger? Das OZG 2.0 bietet jetzt unter anderem die Chance, dass mit der BundID eine Basiskomponente für die digitale Verwaltung ausgebaut wird. Außerdem erleichtert es die Nutzung gemeinsamer IT-Standards in Ämtern und Behörden, wodurch das Tempo bei weiteren Digitalisierungsvorhaben beschleunigt werden kann. Wir müssen uns von alleinstehenden Insellösungen verabschieden und wir müssen die Verwaltungsprozesse Bund und Länder müssen viel stärker als bisher an einem Strang ziehen – und zwar zusammen mit den Kommunen. Und dann bitte auch alle in eine Richtung. Dr. Ralf Wintergerst © Bitkom 12 FOKUS dbb magazin | Oktober 2024

durchgängig digitalisieren. Es nützt nichts, wenn die Bürgerinnen und Bürger oder Unternehmen einen Antrag online stellen, der aber dann in der Verwaltung ausgedruckt, hin- und hergeschickt, bearbeitet und am Ende wieder eingescannt wird. Aber es geht nicht nur um Gesetze und Zuständigkeiten, es geht auch ums Geld. Die Finanzierung der Maßnahmen zur Verwaltungsdigitalisierung muss über das laufende Jahr hinaus abgesichert werden. Ausgaben für eine digitale Verwaltung sind Zukunftsinvestitionen, die sich schnell amortisieren. Was wirklich alle in Verantwortung verstehen müssen: Eine digitale Verwaltung ist kein Nice-to-have. Es geht nicht um mehr Bequemlichkeit für die Bürgerinnen und Bürger. Eine leistungs- und handlungsfähige digitale Verwaltung ist erstens längst ein entscheidender Standortfaktor für Unternehmen. Sie ist zweitens Voraussetzung für smarte Städte und Regionen. Und sie ist drittens und vor allem auch die Grundlage für einen funktionsfähigen Staat – und damit ebenso die Grundlage für Vertrauen der Menschen in die Politik, vom Bund über die Länder bis zu den Kommunen. Wenn die Menschen das Gefühl haben, dass ihre Verwaltung nicht funktioniert, dann führt auch das zu Politikverdrossenheit. Regulierung ist das eine, gutes Personal das andere. Der öffentliche Dienst gilt im Wettbewerb um IT-Fachkräfte – etwa bei der Bezahlung – als kaum konkurrenzfähig. Kann der Staat diesen Wettbewerb überhaupt gewinnen, um genügend eigene Kompetenzen aufzubauen? Oder sind mehr externe Dienstleister und Kooperationen mit Privaten unumgänglich? Zusammenarbeit mit Dienstleistern und Kooperationen mit Unternehmen sind nichts Schlechtes. Auf diese Weise kann die Verwaltung neueste Technologien erproben und in ihre Prozesse integrieren – Unternehmen arbeiten häufig ja nicht anders. Aber man braucht natürlich Know-how im eigenen Haus, um solche Projekte überhaupt anzustoßen, zu begleiten und letztlich auch zu integrieren und zu übernehmen. Wir haben in Deutschland einen seit Jahren wachsenden Mangel an IT-Fachkräften, die Expertinnen und Experten können sich ihre Stelle mehr oder weniger frei aussuchen. Da hat der öffentliche Dienst aufgrund seiner Vergütungsstruktur sicherlich einen Nachteil gegenüber international tätigen Konzernen. Ob das für kleine und mittelständische Unternehmen ebenso gilt, würde ich zumindest in der Breite bezweifeln. Trotzdem müssen wir das Dienst-, Besoldungs- und Tarifvertragsrecht weiterentwickeln, um Leistungsanreize zu schaffen. Mindestens ebenso wichtig ist aber, dass öffentliche Verwaltungen sich zu innovativen und attraktiven Arbeitgebern entwickeln. Da geht es um Dinge wie Fort- und Weiterbildung, Führung, Beurteilungswesen und ganz grundsätzlich um die Kommunikation. Wo sehen Sie die größten Potenziale, aber vielleicht auch mögliche Gefahren beim Einsatz von KI in der öffentlichen Verwaltung? Die größte Gefahr sehe ich darin, dass wir zu lange damit warten, die Chancen von KI zu nutzen. Wer schon einmal eines der aktuellen KI-Sprachmodelle ausprobiert hat, hat einen Eindruck davon bekommen, was künstliche Intelligenz bereits heute leisten kann. Die der öffentlichen Verwaltung beschäftigt sich häufig mit standardisierten Anfragen und Anträgen. Hier können zum Beispiel KI-Chatbots oder KI-­ Systeme zur Plausibilitätsüberprüfung dabei helfen, dass die Menschen schneller und persönlicher Antwort bekommen. Gleichzeitig haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Zeit, sich mit komplexen oder vom Standard abweichenden Fällen zu beschäftigen – oder mit jenen, die derzeit noch den persönlichen Kontakt dem digitalen vorziehen. In den kommenden Jahren werden außerdem sehr viele Beschäftigte im öffentlichen Dienst aus dem Berufsleben ausscheiden. Aufgrund der demografischen Entwicklung wird es schwer werden, alle diese Stellen zu besetzen. Kollege KI verdrängt nicht den Menschen, er sorgt dafür, dass die vorhandenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre Aufgaben weiterhin erledigen können. Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund das weltweit erste Gesetz zur Regulierung von KI, das die EU-Mitgliedstaaten verabschiedet haben? Der AI Act gibt einen EU-weiten Regulierungsrahmen für künstliche Intelligenz vor und ist in Deutschland unmittelbar geltendes Recht. Allerdings lässt der AI Act wesentliche Fragen offen. In Deutschland und den anderen EU-Ländern beginnt die Regulierungsarbeit jetzt erst. KI kann in Deutschland und Europa einen Schub erhalten, etwa durch mehr Rechtssicherheit und größeres Vertrauen der Menschen. KI kann aber auch vor neue Hindernisse gestellt werden und wir können bei KI international weiter zurückfallen. Welchen Weg wir einschlagen, hängt entscheidend davon ab, wie der Rahmen ausgestaltet und der AI Act in Deutschland umgesetzt wird. Wir haben seit 14 Jahren einen Personalausweis mit digitaler Ausweisfunktion und App. Benutzen kann man ihn bislang jedoch eher selten. Welche digitale Dienstleistung des Staates haben Sie zuletzt in Anspruch genommen? Meine letzte digitale Dienstleistung war tatsächlich auch eine Online-Terminvereinbarung – um einen Reisepass zu beantragen. Die digitale Ausweisfunktion, die Sie anführen, ist ein gutes Beispiel dafür, dass wir in Deutschland hervorragende digitale Dienste entwickeln können – und dann zu oft daran scheitern, sie in die breite Anwendung zu bringen. Fragt man nämlich die – leider zu wenigen – Nutzerinnen und Nutzer der digitalen Ausweisfunktion nach ihren Erfahrungen, wie wir das im vergangenen Jahr getan haben, dann fallen diese durchaus positiv aus. Jeweils 61 Prozent würden ihn gerne in Zukunft häufiger nutzen, auch außerhalb der Verwaltung, etwa beim Check-in im Hotel oder beim Gaming. Wie können wir da besser werden? Ich glaube, wir müssen mehr aus der Perspektive der Nutzerinnen und Nutzer denken. Da würde uns auch in der Verwaltung manchmal ein bisschen Start-upMentalität guttun. _ Wenn die Menschen das Gefühl haben, dass ihre Verwaltung nicht funktioniert, dann führt auch das zu Politikverdrossenheit. FOKUS 13 dbb magazin | Oktober 2024

PERSONALPOLITIK Fachkräftemangel im öffentlichen Dienst Warum KI nur ein Teil der Lösung ist Eine aktuelle Studie der Unternehmensberatung McKinsey sieht großes Potenzial für den Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) im öffentlichen Dienst. Der aktuelle Mangel von rund 570 000 Vollzeitkräften ließe sich durch deren Einsatz um bis zu 165 000 Vollzeitkräfte senken. Aber so einfach ist es in der Praxis nicht. Vor allem sogenannte generative künstliche Intelligenz (GenAI) hat für McKinsey das Potenzial, die Automatisierung in der Verwaltung auf ein neues Level zu heben: Während bislang nur rund 20 Prozent der Aufgaben bei Tätigkeiten, die die Anwendung komplexen Fachwissens erfordern, Automatisierungspotenzial aufwiesen, können mittels GenAI bis zu 55 Prozent dieser Aufgaben automatisiert erledigt werden, so die Studienautoren. „Das Potenzial von generativer KI ist für den öffentlichen Dienst enorm. Mutig und mit Augenmaß eingesetzt, eröffnet GenAI der Verwaltung neue Möglichkeiten, den Fachkräftemangel abzufedern und den Beschäftigten die Aufgabenerledigung spürbar zu erleichtern“, sagt Studienautor Björn Münstermann, Senior Partner und Leiter der Beratung des öffentlichen Sektors bei McKinsey. „Generative KI kann erheblich dazu beitragen, die Handlungsfähigkeit des Staates auch in Zukunft sicherzustellen sowie Verwaltungsleistungen effizienter und nutzerfreundlicher zu gestalten.“ KI-Fähigkeiten aufbauen Zur Berechnung des durch GenAI realisierbaren Produktivitätspotenzials wurden für die Studie rund 2 100 unterschiedliche Arbeitstätigkeiten sowie die dafür erforderlichen Fähigkeiten analysiert. Davon ausgehend ließen sich die Automatisierungs- und Produktivitätspotenziale für rund 850 Berufe ermitteln. In der öffentlichen Verwaltung können besonders die Steuer- und Kommunalverwaltungen vom Einsatz von GenAI profitieren, da es in diesen Bereichen einerseits bereits heute große Fachkräftelücken gibt und andererseits besonders große Automatisierungspotenziale vorhanden sind. Bereiche mit nur geringem Unterstützungspotenzial durch GenAI sind dagegen unter anderem der Polizeivollzugsdienst sowie Schulen und Kitas. „Durch die Automatisierung von Aufgaben und Tätigkeiten mittels GenAI lässt sich nicht nur der Bedarf an zusätzlichen Fachkräften verringern, sondern Beschäftigte können frei gewordene Arbeitszeit verstärkt den anspruchsvolleren Aufgaben wie der Beurteilung von Ermessensentscheidungen oder dem Bürgerdialog widmen“, sagt Julia Klier, Senior Partnerin bei McKinsey und Co-Autorin der Studie. „Um GenAI in der öffentlichen Verwaltung 14 FOKUS dbb magazin | Oktober 2024

erfolgreich zu implementieren, braucht es einen strategischen Ansatz. Dieser umfasst die Identifikation geeigneter Anwendungsfälle, den Aufbau erforderlicher GenAI-Fähigkeiten bei den Beschäftigten sowie die Berücksichtigung von GenAI-Risiken und Datenschutz.“ Chatbots für die Bürgerkommunikation Die Anwendungsbereiche von GenAI im öffentlichen Dienst sind vielfältig. Bislang wird die Technologie etwa für bürgerorientierte Kommunikation durch Chatbots eingesetzt, die in ersten Fällen rund die Hälfte der Anfragen übernehmen konnten, die bislang von einem Callcenter bearbeitet werden mussten. Weitere Anwendungsgebiete sind das Erstellen von Zusammenfassungen, die Automatisierung von Änderungsanträgen, die bisher manuell bearbeitet wurden, die Generierung neuer Inhalte wie Broschüren sowie die Softwareentwicklung. Eine noch größere Rolle als bei privaten Unternehmen spielt bei GenAI in der Verwaltung das Thema Sicherheit. Denn vertrauliche Behördendaten könnten an die Öffentlichkeit gelangen oder gestohlen werden, wenn Verwaltungsmitarbeitende diese versehentlich in KI-Modelle eingeben. Ein weiteres Risiko resultiert aus Ergebnissen, die veraltete, unvollständige oder ungenaue Informationen, sogenannte Halluzinationen, enthalten, die das Vertrauen der Öffentlichkeit in staatliche Dienstleistungen gefährden könnten. „Bei der Einführung von GenAI-Anwendungen muss immer auch das Thema Risikominimierung mitgedacht werden. Das gilt nicht nur für rechtliche und technologische Risiken, sondern auch die Stärkung von Risikobewusstsein bei den Beschäftigten“, sagt Julian Kirchherr, Partner bei McKinsey und ebenfalls Co-Autor der Studie. „Grundsätzlich ist GenAI ein vielversprechendes Werkzeug, um die Fachkräftelücke im öffentlichen Dienst in Deutschland zu verkleinern. Dies ist umso wichtiger, da ein starker öffentlicher Sektor ein echter Standortvorteil im internationalen Wettbewerb ist.“ Gebremste Euphorie Auch der dbb ist überzeugt, dass KI einen essenziellen Beitrag im öffentlichen Dienst leisten kann, um das knappe Personal zu entlasten. „Wenn dadurch etwa einfache Routineaufgaben für die Kolleginnen und Kollegen wegfallen, bleibt mehr Zeit für hochwertigere Tätigkeiten oder bessere Serviceleistungen für die Bürgerinnen und Bürger“, sagte Waldemar Dombrowski, zweiter Vorsitzender des dbb, dem Tagesspiegel am 15. Juli 2024 in Reaktion auf die Studienergebnisse. Dadurch würden Genehmigungsfristen kürzer und die Betreuung besser. Außerdem könne die Arbeitsverdichtung sinken und Überstundenberge abgebaut werden. Skeptisch ist Dombrowski jedoch bezüglich der anvisierten Stelleneinsparungen in großem Umfang: „Der akute Personalmangel von über 500 000 Stellen und die anstehenden Verrentungs- und Pensionierungswellen im öffentlichen Dienst sprechen eindeutig dagegen“, so der dbb Vize im Tagesspiegel. Hinzu komme die Vielfältigkeit der Berufe im öffentlichen Dienst: „Der Einsatz von KI hat Grenzen, was die Tätigkeitsbereiche betrifft. Bei Polizei, Schulen sowie Kitas sehen wir wie McKinsey deutlich weniger Potenzial, das liegt in der Natur dieser Berufe.“ Die Zahlen, auf die sich McKinsey im Hinblick auf den Personalmangel beruft, hat der dbb in seiner jährlich erscheinenden Broschüre „Monitor öffentlicher Dienst“ veröffentlicht. Demnach fehlen bei der Bundes- und Landespolizei 51 500 Vollzeitkräfte. In Kitas sind es 98 000, in Schulen 100 000 und in der Alten- und Krankenpflege sogar 110 000. „Zudem braucht es für die Einführung von KI-Systemen wiederum Personal und Kompetenzen, die nicht nur im öffentlichen, sondern auch privaten Sektor händeringend gesucht werden.“ Gegenüber dem dbb magazin machte Dombrowski noch auf einen weiteren Aspekt aufmerksam, der die KI-Euphorie für den öffentlichen Sektor ebenfalls bremsen dürfte: „Bisher sind Bund, Länder und Kommunen noch weit davon entfernt, die Vorgaben des Onlinezugangsgesetzes zu erfüllen, was die flächendeckende Verfügbarkeit digitaler Bürgerdienste betrifft. Weiter ringen viele Verwaltungsbereiche derzeit um einheitliche Standards für die Digitalisierung komplexer Verwaltungsprozesse. Bei diesem ernüchternden Digitalisierungsstand auf die Wunderwirkung künstlicher Intelligenz zu hoffen, verkennt die Ausgangslage.“ Die größte Arbeitsersparnis in der öffentlichen Verwaltung bringe die Automatisierung von Verwaltungsdienstleistungen mit der Hilfe von sogenannter schwacher oder regelbasierter KI. „Konkret geht es dabei um gebundene Verwaltungsentscheidungen, bei denen es keinen Ermessensspielraum gibt, und das geht ohne generative KI“, erläutert Dombrowski. Grundvoraussetzung dafür sei allerdings eine Ende-zu-Ende-Digitalisierung und eine abgeschlossene Registermodernisierung. „Bei beiden Projekten gibt es aber noch erhebliche Probleme und es wird dauern, bis dies überall so implementiert ist, dass der breite Einsatz von KI überhaupt möglich wird.“ br Die McKinsey-Studie im Web: t1p.de/KI_Fachkraefte Webtipp © Thisis Engineering/Unsplash.com (2) FOKUS 15 dbb magazin | Oktober 2024

BILDUNG DigitalPakt 2.0 Gute Bildung braucht nachhaltige Lösungen Der DigitalPakt Schule wurde 2019 ins Leben gerufen. Mit einem Budget von insgesamt 6,5 Milliarden Euro und einer Laufzeit von fünf Jahren sollten Schulen in ganz Deutschland mit moderner Technik ausgestattet werden, um den Unterricht zeitgemäß gestalten zu können. Die Umsetzung erwies sich allerdings als herausfordernd. Die Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Kommunen war nicht nur aufwendig, sondern auch schwierig abzustimmen. Zudem kam es zu Verzögerungen bei der Auszahlung der Mittel, und nicht alle Schulen konnten gleichermaßen vom Bundesprogramm profitieren. Viele Lehrkräfte wurden im Zuge der Umsetzung stark belastet. Trotzdem steht die Bedeutung des DigitalPakts außer Frage – in den vergangenen fünf Jahren wurden viele wertvolle Erfahrungen und Erkenntnisse gewonnen. Das Bundesprogramm endete im Mai 2024, ein nahtloser Übergang wurde jedoch verpasst, und die Verhandlungen für den DigitalPakt 2.0 ziehen sich hin. Die Forderungen sind bekannt und bieten eine solide Grundlage für das weitere Vorgehen. Doch die politische Situation ist angespannt – es fehlt an Geld, und die Verhandlungen zwischen Bund und Ländern kommen nur langsam voran. Während der Bund bisher 90 Prozent der Kosten getragen hat, steht der Vorschlag im Raum, dass die Länder künftig die Hälfte übernehmen sollen. Das sorgt für Unmut und führt zu weiteren Verzögerungen in den Verhandlungen. „Die dbb Lehrergewerkschaften haben den DigitalPakt von Beginn an kritisch und konstruktiv begleitet. Die Erfahrungen und derzeitigen Folgeverhandlungen zeigen, dass wir bei der Zusammenarbeit der Gebietskörperschaften noch lange nicht dort sind, wo wir gerne wären“, sagt Susanne Lin-Klitzing, Bundesvorsitzende des Deutschen Philologenverbandes (DPhV) und Vorsitzende der dbb Fachkommission Schule, Bildung und Wissenschaft. Mittel- und langfristig sei das ständige Hangeln von einem Digitalpakt zum nächsten keine Lösung. „Mit den aktuellen Förderlücken werden die Erfolge der Vergangenheit aufs Spiel gesetzt. Es braucht jetzt eine langfristige und nachhaltige Förderung, damit Schulen verlässlich planen und die Kolleginnen und Kollegen zeitgemäß unterrichten können.“ Lin-Klitzing sieht in der hälftigen Finanzierung eine Gefahr für die Bildungsgerechtigkeit und fordert bundesweite Mindeststandards für die digitale Ausstattung an Schulen. Auch Simone Fleischmann, stellvertretende Bundesvorsitzende des dbb und Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV), ist nicht zufrieden mit dem Stand des DigitalPakts. „Die Digitalisierung unserer Schulen kann nur gelingen, wenn das System Schule in seiner Gesamtheit betrachtet wird. Wir wollen mit dem DigitalPakt nicht die IT-Branche subventionieren, sondern die Potenziale der Digitalisierung wirksam nutzen.“ Tablets und Whiteboards müssten daher zwingend in ein umfassendes pädagogisches Konzept eingebunden werden. „Anderenfalls sind sie pädagogisch nicht wertvoller als Schiefertafeln und Griffel. Bildungsarbeit ist Beziehungsarbeit – Lehrkräfte können nicht durch digitale Tools ersetzt werden, denn sie sind unverzichtbar für den Lernprozess.“ Digitale Bildung und das Primat der Pädagogik müssten in der Aus-, Fort- und Weiterbildung der Lehrkräfte stärker berücksichtigt werden. Für Lin-Klitzing besteht im zunehmenden Lehrkräftemangel eine weitere Herausforderung. „Trotz dünner Personaldecke müssen Lehrkräfte oft außerunterrichtliche Aufgaben wahrnehmen. Damit sich die Kolleginnen und Kollegen aber auf ihre Kernaufgabe konzentrieren können, bedarf es einer entsprechenden Entlastung, und dafür muss der IT-Support an unseren Schulen funktionieren.“ Ferner hätten Dienstherren und Arbeitgeber für ausreichende zeitliche Ressourcen für die Fort- und Weiterbildung der Kollegien zu sorgen, um die pädagogischen Konzepte entsprechend vermitteln zu können. „Aktuell bietet sich die große Chance, ein zukunftsweisendes Bildungsprogramm zu gestalten und unsere Schulen zu modernisieren. Gelingt dies der Politik, können wir unserem Bildungsauftrag nachkommen und sicherstellen, dass die Schülerinnen und Schüler zu mündigen und reflektierten Mitgliedern unserer zunehmend digitalen Gesellschaft herangebildet werden. Wir plädieren nachdrücklich dafür, diese Chance nicht zu verpassen“, appelliert Fleischmann. jos © Getty Images/Unsplash.com 16 FOKUS dbb magazin | Oktober 2024

© John Schnobrich/Unsplash Digitales Lernen Demokratie ist kein Wunschkonzert Mithilfe des aula-Digitaltools können Schülerinnen und Schüler demokratische Mitbestimmungsprozesse einüben und den Schulalltag gestalten. Schülervertretungen vertreten die Interessen ihrer Wählerinnen und Wähler auf Klassen- und Schulebene und sollen auch zwischen Schülern, Eltern und Lehrkörper vermitteln. Auf diese Weise üben Kinder und Jugendliche die Funktionsweise repräsentativer Demokratie mit ein. Für etliche Schülerinnen und Schüler gibt es da aber Hürden: Die Scheu, sich vor „den Großen“, den Älteren, zu artikulieren etwa oder die Angst, vor einer großen Anzahl von Menschen zu sprechen. Die Möglichkeiten der Mitbestimmung bleiben dann ungenutzt. Die Digitalplattform aula schafft hier ein niedrigschwelliges Beteiligungsangebot, mit dem Schüler und Schülerinnen Ideen zur Gestaltung des Schulalltags einbringen: „Sollen wir einen Flohmarkt zugunsten der Ukraine organisieren? Sollen auf den Schultoiletten kostenlose Periodenprodukte ausliegen? Soll die Schuluniform an unserer (Privat-)Schule abgeschafft werden?“, zählt Lisa Wulf auf. Sie ist Projektkoordinatorin bei der aula gGmbH und erklärt, worüber an aula-Schulen in der letzten Zeit so abgestimmt worden ist. Ideen auf der Plattform auszuspinnen, ist das eine. Aber: „Das ist nicht wie ein Wunschkonzert“, betont Dejan Mihajlovic, Referent für Demokratie-Bildung am Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung, einer Fortbildungseinrichtung für Lehrkräfte in Baden-Württemberg. Als aula-Botschafter unterstützt er Schulen bei der aula-Einführung. Ein Organisationsteam der Schule, bestehend aus Schülern, Lehrern, aber auch Sozialarbeitern, wird im Rahmen mehrerer Workshops zunächst einmal geschult. Bevor die Plattform startet, muss die Schulkonferenz – Schüler- und Lehrerschaft – einem Rahmenvertrag zustimmen, der zuvor mit Unterstützung durch aula ausgearbeitet worden ist. Welche Regeln sollen auf der Plattform gelten? Wie sollen die Abstimmungsprozesse ablaufen? Ist dies beschlossen, erhält jeder Log-in-Daten und bewegt sich auf der Plattform, die gewisse Parallelen zu sozialen Medien aufweist. Nur die Zahl der Teilnehmer ist eng begrenzt und alle kennen einander vom Schulhof. Posts und Kommentare sind nicht anonym. Alle können Ideen einbringen, müssen die dann aber auch ausarbeiten, auf ihre Durchführbarkeit hin prüfen und online präsentieren. „Auch die Finanzierung muss durchkalkuliert werden“, sagt Lehrer Mihajlovic. Dann kann über einen bestimmten Zeitraum hinweg online frei und geheim abgestimmt werden. Schüler und Schülerinnen können für ihre Ideen werben und so Mehrheiten organisieren. Falls jemand sich mit einem Thema nicht auskennt, vielleicht mit der Installation eines Basketballkorbes auf dem Schulhof, ist es, wenn es der Rahmenvertrag zulässt, möglich, Stimmen an Bevollmächtigte zu übertragen. Zum Beispiel an die Mitschülerin, die Basketball im Verein trainiert. „Die Stimme wird so flexibel“, erzählt Mihajlovic. Wer die Stimme übertragen hat, kann nicht nachvollziehen, wie der oder die Bevollmächtigte sie eingesetzt hat. Während die Abstimmung läuft, häufig zwei bis drei Wochen, kann die weitergegebene Stimme aber jederzeit auch wieder zurückgeholt werden. Das wäre mit analogen Stimmzetteln nicht möglich. „Die Kinder und Jugendlichen lernen, wie Demokratie funktioniert, wie die eigene Stimme wirkt, was mit ihr passiert“, so Mihajlovic. Teil dieser Demokratie-Erfahrung ist nicht nur die Erkenntnis, „dass Ideen ausgehandelt werden müssen“, sondern auch, dass die Person, die den Vorschlag gemacht hat, ihn nach gewonnener Abstimmung auch umsetzt. Das Konzept eignet sich für die Mittel- oder Oberstufe und wird laut Mihajlovic in Baden-Württemberg aktuell an etwa zehn Schulen umgesetzt. Dort geht es um die Aufstellung von Wasserspendern oder um die Einführung eines Smartphone-Unterrichtstages an der Schule. Rund zwei aula-Stunden werden pro Monat allerdings benötigt. „Oft beteiligen sich Gemeinschaftskundelehrkräfte an der Einführung von aula.“ Pro Jahrgangsstufe sollte eine Lehrkraft am Projekt beteiligt sein. Technische Hilfestellung für Einführung und die Einrichtung der Accounts geben oft ein oder zwei Schüler pro Klasse, die dann aber eine Lehrkraft als Ansprechpartner benötigen. Unterstützung erhalten die Lehrkräfte durch Online-Lernplattformen für unterschiedliche User-Level und offene Materialien für die Einführung. Die aula gGmbH finanziert sich neben Honoraren für die aula-Einführungsworkshops durch Spenden und durch das Programm „Zusammenhalt durch Teilhabe“ des Bundesinnenministeriums. Besonders beeindruckt hat Mihajlovic, dass an einer Schule der Wunsch nach Schülerbeteiligung an der Stundenplanplanung zwar keine Mehrheit fand, einige Lehrkräfte die Idee aber dennoch aufgegriffen haben. Und auch Lisa Wulf ist überzeugt: „aula bietet eine Erweiterung der Beteiligungsmöglichkeiten.“ ada FOKUS 17 dbb magazin | Oktober 2024

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