dbb magazin 10/2024

Pipelines stets abgestritten. Auch bei einer US-Studie aus dem Jahr 2021 konnte keine solche Pipeline nachgewiesen werden. Da Verschwörungsvideos seit Anfang 2020 deutlich weniger Aufrufe erhalten, ist davon auszugehen, dass YouTube seinen Vorschlagsalgorithmus angepasst hat. In der Studie bekamen nur diejenigen extremen Content angezeigt, die aktiv danach suchten. Die neue Strategie der Extremisten ist jetzt scheinbar, Nutzerinnen und Nutzer dazu zu bringen, freiwillig nach entsprechenden Inhalten zu suchen. TikTok: Pipeline mit Turboantrieb Seit ein paar Jahren gibt es in der Neuen Rechten einen regelrechten Trend, sich selbst zu radikalisieren. „Redpilling“ nennt sich dieser Prozess, inspiriert vom Charakter „Neo“, der im Filmklassiker „Matrix“ eine rote Pille schluckt, um die echte Welt hinter der Matrix zu sehen. Wer im Netz die rote Pille nimmt, versteht die Welt als groß angelegtes Lügenkonstrukt und begibt sich auf die Suche nach Wahrheit und Freiheit. Die Suche führt über andere Videos des Accounts, Kommentarspalten, Podcasts, Foren und Telegram-Gruppen in immer radikalere Ecken des Internets, in denen andere Ansichten immer schwerer durchdringen. Wie Alice im Wunderland folgen Nutzerinnen und Nutzer dem weißen Kaninchen immer tiefer in seinen Bau, das sogenannte „Rabbit Hole“. Dabei ist so viel Eigeninitiative gar nicht nötig. Während YouTube seinem Algorithmus ein paar Zügel angelegt hat, ist das auf anderen Plattformen nicht der Fall. Die Kunst, exakt den Content anzuzeigen, den Nutzerinnen und Nutzer sehen wollen, hat TikTok perfektioniert. Es ist eine Echokammer, in der die Geräusche immer lauter werden. So hat sich zum Beispiel auch der Attentäter von Solingen über islamistische Videos auf TikTok radikalisiert. Unter den deutschen Bundestagsparteien dominiert die AfD auf TikTok – ebenso auf Facebook, Instagram und YouTube. Ihr Account hat mit Abstand die größte Reichweite, die AfD-Mitglieder des Deutschen Bundestages sind online und erhalten fast doppelt so viele Likes wie alle anderen MdBs zusammen. Medien richtig lesen Das Netz hält mit Fake News und unbewusster Radikalisierung viele Fallen bereit. Um ihnen zu entgehen, sind „Media Literacy“ und „Information Literacy“ nötig. Im Deutschen wird beides meist mit „Medienkompetenz“ übersetzt. Die Idee dahinter ist, sich beim Konsum von Medien und Nachrichten stets über deren Kontext, Ursprung und Intention bewusst zu sein. Die Übersetzung von „Literacy“ ist „Alphabetisierung“ und ähnlich, wie Kinder in der Schule lernen, Wörter kontextuell zu verstehen, sollten auch Nachrichtenartikel im Kontext der medialen und realen Welt verstanden werden. Idealerweise lässt sich eine Falschnachricht dann mit dem gleichen Gespür erkennen wie ein Rechtschreibfehler. Neben den oben genannten Begriffen tritt auch „Algorithm Literacy“ zunehmend ins Rampenlicht. Hier geht es darum, ein Bewusstsein darüber zu entwickeln, dass Inhalte algorithmisch angezeigt werden, warum sie angezeigt werden und wie Algorithmen beeinflusst werden können. So schreiben Medienpädagogin Kristin Narr und Bildungsreferent Christian Friedrich von der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb): „In der heutigen Informationsgesellschaft ist Wissen – mit der Betonung nicht auf Faktenwissen, sondern auf Wissen über Prozesse und Kompetenzen – eine kritische Ressource.“ Sie empfehlen, Medienkompetenz schon früh in die Kinderbildung einzubinden. Kinder und Jugendliche sind bereits früh von diesen Technologien umgeben, oft ohne ein Verständnis für die dahinterstehenden Programme sowie die wirtschaftlichen und politischen Interessen. Radikalisierung an der Wurzel bekämpfen Media Literacy ist nur eins von mehreren Mitteln gegen Radikalisierung und Missinformation. Plattformbetreiber sind mitverantwortlich für das, was in ihren Netzwerken zu sehen ist und was ihre Algorithmen weiterempfehlen. Sie können beispielsweise durch Löschen der Inhalte und Sperren der Accounts gegen extremistische Posts und Personen vorgehen. Die Erfahrung zeigt, dass sogenanntes „Deplattforming“ Erfolg hat. In der Regel erhalten radikale Accounts auf Ausweichplattformen nicht ansatzweise die Reichweite, die sie zuvor hatten. Bestes Beispiel: Ex-Präsident Donald Trump war mit fast 89 Millionen Followern einer der größten Accounts auf Twitter, heute X. Nach seiner Sperrung wich er auf die eigene Plattform Truth Social aus, bei der er aber nie mehr als fünf Millionen Follower erreichte. Allerdings bringt Deplattforming auch mit sich, dass nur der harte Kern der Gefolgschaft zum neuen Netzwerk migriert und sich der Echokammer-Effekt für diese Gruppe dadurch sogar verstärkt. Letztlich haben die reichweitenstarken Nutzerinnen und Nutzer selbst in der Hand, was sie posten, teilen, kommentieren und durch Likes befürworten – der beste radikale Content ist der, der gar nicht erst entsteht. dsc © Erdacht mit KI FOKUS 25 dbb magazin | Oktober 2024

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