dbb magazin 11/2024

dbb magazin Interview | Lutz Goebel, Vorsitzender des Nationalen Normenkontrollrates Einkommensrunde 2025 | Mehr Entgelt und Zeitsouveränität für den öffentlichen Dienst 11 | 2024 Zeitschrift für den öffentlichen Dienst Bürokratieabbau | Strategien für die aufgeräumte Verwaltung

Bürokratie ist kein Selbstzweck Eine verlässliche und transparent arbeitende Verwaltung ist essenziell für die Umsetzung von Gesetzen, die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit und die Gewährleistung der staatlichen Ordnung. Bürokratie stellt sicher, dass staatliche Institutionen nach klaren, vorhersehbaren und rechtlich bindenden Regeln handeln, was nicht zuletzt Voraussetzung für ein stabiles demokratisches System ist. Der Soziologe Max Weber definierte Bürokratie als System, das durch feste Regeln, eine klare Arbeitsteilung und eine Hierarchie gekennzeichnet ist. Bürokratische Organisation zeichnet sich demnach durch Unpersönlichkeit im Sinne von Neutralität gegenüber persönlichen Identitätsmerkmalen sowie Sachlichkeit aus – Eigenschaften, die Effizienz und Gerechtigkeit sicherstellen. Diese Struktur sichert dem modernen Staat in seiner Fortentwicklung bis heute Stabilität. Doch sie birgt auch die Gefahr der Erstarrung. Wo Regeln zur unflexiblen Routine werden, droht Bürokratie zum Selbstzweck zu verkommen. Das Ziel ist klar: Bürokratie darf kein Hindernis, sondern muss Werkzeug sein, das die Arbeit der Verwaltung und das Leben der Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen erleichtert. Ein kluger, nachhaltiger Bürokratieabbau vermeidet Überregulierung und wahrt zugleich Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit. So kann der öffentliche Dienst wieder handlungsfähiger werden und sich auf seine Kernaufgaben konzentrieren – vor allem vor dem Hintergrund mangelnder personeller Ressourcen. br 12 4 16 TOPTHEMA Bürokratieabbau 30 AKTUELL EINKOMMENSRUNDE Beschäftigte von Bund und Kommunen: Mehr Entgelt und Zeitsouveränität für den öffentlichen Dienst 4 Regionalkonferenzen mit klarer Tendenz 6 Konjunktur und Investitionen: Der öffentliche Dienst ist ein Wirtschaftsfaktor 7 BEAMTE Reform der Bundesbesoldung: Unlogisch, intransparent und enttäuschend 9 NACHRICHTEN Verkehrspolitik: Stoppschild für Sparkurs bei der Autobahn GmbH 10 FOKUS INTERVIEW Lutz Goebel, Vorsitzender des Nationalen Normenkontrollrates: Es besteht ein klarer Zusammenhang zwischen Bürokratie und Politikverdrossenheit 12 DOSSIER BÜROKRATIEABBAU NKR-Jahresbericht 2024: Gute Gesetze. Weniger Bürokratie. 14 Bürokratieentlastungsgesetz: Kampf gegen Zettelberge 16 Moderne Verwaltung: Standardprozesse müssen schneller werden 18 Gold-Plating: Goldener Tropfen auf heißem Stein 20 Nachgefragt bei Manfred Pentz: Bürokratieabbau ist eine Teamleistung 22 STUDIE Personalpolitik: Relativer Rückgang rückt Beamte in den Fokus 26 INTERN SENIOREN Seniorenpolitische Fachtagung: „Nie zu alt für Neues – Lernen ohne Limit“ 30 JUGEND Beleidigungen und Übergriffe: Wie der Arbeitsplatz sicherer wird 32 Impressum 36 KOMPAKT GEWERKSCHAFTEN 42 STARTER © Paul Campbell/Unsplash.com AKTUELL 3 dbb magazin | November 2024

Beschäftigte von Bund und Kommunen Mehr Entgelt und Zeitsouveränität für den öffentlichen Dienst Mit der Forderung nach 8 Prozent mehr Einkommen gehen die Gewerkschaften Anfang 2025 in die Tarifrunde für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes von Bund und Kommunen. dbb Chef Ulrich Silberbach erwartet harte Tarifverhandlungen. Das Forderungsvolumen von 8 Prozent, mindestens 350 Euro mehr Einkommen – so lautet die Antwort auf den eklatanten Personalmangel. „Das werden sicher wieder lange Nächte“, kündigte der dbb Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach am 9. Oktober 2024 bei der Vorstellung der Gewerkschaftsforderungen für die Einkommensrunde in Berlin an. Die Forderungen seien ambitioniert. Sie orientierten sich aber an dem, was ein zukunftsfähiger öffentlicher Dienst brauche, und nicht daran, was sich die Bundesinnenministerin, der Bundesfinanzminister sowie die Stadtkämmerer wünschen würden, stellte Silberbach klar. „Uns fehlen jetzt schon 570 000 Beschäftigte im öffentlichen Dienst, und die demografische Krise beginnt gerade erst. In den nächsten zehn Jahren geht ein Drittel der Beschäftigten in den Ruhestand. Wenn wir jetzt nicht für eine wettbewerbsfähige Bezahlung und attraktivere Arbeitsbedingungen sorgen, schmieren wir in der Konkurrenz mit der Privatwirtschaft ab“, erklärte Silberbach weiter. Die Bürgerinnen und Bürger erlebten den Mangel bereits und verlören zunehmend das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit des Staates: „Das ist demokratiegefährdend. Wir müssen diesen Trend jetzt umkehren. Spürbare Einkommenszuwächse sowie attraktive und flexible Arbeitsbedingungen sind ein wichtiger erster Schritt. Nur so gewinnen Bund und Kommunen neue und motivieren vorhandene Beschäftigte.“ Ulrich Silberbach erläuterte die Einkommensforderung am 9. Oktober 2024 vor der Presse. Links dbb Tarifchef Volker Geyer, rechts der ver.diVorsitzende Frank Werneke. EINKOMMENSRUNDE Blick in die Zukunft: Ohne die Präsenz der Beschäftigten auf der Straße werden die Forderungen nicht durchzusetzen sein. © Jan Brenner © Vincent Mosch 4 AKTUELL dbb magazin | November 2024

Vor allem die geforderten zusätzlichen drei freien Tage sowie die Flexibilisierung der Arbeitszeit durch ein innovatives Arbeitszeitkonto versprächen spürbare Attraktivitätsgewinne, ergänzte Volker Geyer, dbb Fachvorstand Tarifpolitik: „Diese Arbeitszeitkonten müssen hochflexibel sein und sich nach den Vorstellungen der Beschäftigten richten – sowohl bei dem, was eingezahlt wird, als auch bei der späteren Nutzung. Das könnten eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit, weitere freie Tage oder etwa Sabbaticals sein.“ Zentral ist für den dbb außerdem die zeitgleiche und systemgerechte Übertragung des Tarifergebnisses auf den Beamtenbereich des Bundes. „Das ist sachlich und ethisch zwingend, und erst dadurch wird diese Einkommensrunde erfolgreich zum Abschluss gebracht“, betonte Silberbach. Zuvor hatte die Bundestarifkommission (BTK) des dbb in Berlin das Forderungspaket zur Einkommensrunde 2025 einstimmig beschlossen. Es enthält sowohl eine spürbare lineare Komponente als auch den Einstieg in eine selbstbestimmtere und modernere Arbeitszeit. „Dieses Forderungspaket hat sich in dieser Form nach unseren Regionalkonferenzen abgezeichnet“, erläuterte dbb Tarifchef Volker Geyer, „denn natürlich brauchen und wollen die Kolleginnen und Kollegen mehr Geld. Dass die Inflation aktuell nicht weiter steigt, heißt ja nicht, dass der aufgetürmte Sockel der vergangenen Jahre verschwunden ist. Obendrein bedeutet eine niedrigere Inflation nicht automatisch, dass auch die Preise für das alltägliche Leben sinken. Wer selbst einkauft, weiß, wovon ich spreche.“ Auch zum Thema Arbeitszeit ist die dbb Position eindeutig. Geyer: „Auf all unseren Regionalkonferenzen war klar: Die Einkommenserhöhung steht im Zentrum, aber das Thema Arbeitszeit ist keine Zierde am Rande, sondern essenziell.“ Viele Kolleginnen und Kollegen schafften es sonst nicht mehr, den immer anspruchsvolleren Tätigkeiten gerecht zu werden. „Was wäre gewonnen, wenn diese Menschen dem öffentlichen Dienst den Rücken kehrten, weil es die attraktiven Arbeitszeiten woanders gibt?“ Der Weg in die Privatwirtschaft sei für gut ausgebildete Fachkräfte nicht weit. Für die Bundesbeamtinnen und -beamten stellte Waldemar Dombrowski, dbb Fachvorstand Beamtenpolitik, klar, dass der Bund vor vielen Jahren einen „Zeitkredit“ bei seinen Beamtinnen und Beamten aufgenommen habe, dessen Rückzahlung er von Jahr zu Jahr verschiebt. „Der Bund“, so Dombrowski, „trägt eine Schuld mit sich herum, die er endlich begleichen muss. Wir erwarten, dass Innenministerin Nancy Faeser im Kontext der Einkommensrunde endlich konkret wird und sagt, wie sie die Rückführung auf 39 Wochenstunden umsetzen will.“ Klar ist aber auch, dass diese Forderung nicht auf die Einkommensforderung angerechnet werden dürfe. „Wir erwarten, dass der Bund sein ursprüngliches Versprechen endlich einlöst.“ _ > Ein Volumen von 8 Prozent, mindestens aber 350 Euro monatlich zur Erhöhung der Entgelte (gegebenenfalls zum besseren finanziellen Ausgleich von besonderen Belastungen). > Drei zusätzliche freie Tage sowie einen freien Tag für Gewerkschaftsmitglieder. > Einrichtung eines Arbeitszeitkontos, über das die Beschäftigten eigenständig verfügen. > Die Entgelte für Auszubildende, dual Studierende, Praktikantinnen und Praktikanten sollen um 200 Euro monatlich erhöht werden. Die Kernforderungen Vom Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) sind über 2,6 Millionen Beschäftigte direkt oder indirekt betroffen: rund 1,7 Millionen Arbeitnehmende und Auszubildende des Bundes (über 156 000) und der Kommunen (über 1 500 000) und weiterer Bereiche, auf die der TVöD direkte Auswirkungen hat. Hinzu kommen knapp 370 000 Bundesbeamtinnen und Bundesbeamte, Anwärterinnen und Anwärter sowie fast 600 000 Versorgungsempfängerinnen und -empfänger beim Bund, auf die der Tarifabschluss übertragen werden soll. Mittelbar hat die Einkommensrunde auch Auswirkungen auf weitere Bereiche des öffentlichen Dienstes. Die Verhandlungen beginnen am 24. Januar 2025 in Potsdam. Mehr Infos: dbb.de/einkommensrunde Hintergrund Breite Zustimmung für die Einkommensforderung in der Bundestarifkommission des dbb. © Fabian Berg © Friedhelm Windmüller AKTUELL 5 dbb magazin | November 2024

Einkommensrunde Bund und Kommunen Regionalkonferenzen mit klarer Tendenz Mehr Flexibilität, mehr Entlastung, mehr Geld: Die Beschäftigten haben dezidierte Vorstellungen davon, was sich ändern muss. Sie haben ihre Wünsche im Vorfeld der Forderungsfindung für die anstehende Einkommensrunde auf den dbb Regionalkonferenzen mit Vertretern der dbb Spitze diskutiert, zuletzt am 1. Oktober in Hamburg. Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Regionalkonferenz am 30. September 2024 in Berlin. © Friedhelm Windmüller Die vielen Gespräche haben verdeutlicht, dass Bund und Kommunen bei der Einkommensrunde zwingend liefern müssen“, sagte dbb Tarifchef Volker Geyer. Mit Personalmangel und Aufgabenzuwächsen drohe der Staat als Arbeitgeber den Anschluss und damit den Wettbewerb um die besten Köpfe zu verlieren. „Moderne Arbeitszeitmodelle, die mehr Flexibilität ermöglichen, und eine spürbare Entgelterhöhung – das ist es, worüber wir zwingend sprechen müssen. Die Beschäftigten stehen bereit, um ihren berechtigten Forderungen auf der Straße Nachdruck zu verleihen, sollte das erforderlich werden.“ Für Waldemar Dombrowski, zweiter Vorsitzender des dbb und Fachvorstand Beamtenpolitik, ist es zentral, dass der Dienstherr die Arbeitszeit für Bundesbeamtinnen und -beamte endlich wieder zurückführt: „Seit 2006 arbeiten die Kolleginnen und Kollegen 41 Wochenstunden. Diese Sonderbelastung, die im Übrigen nur übergangsweise gelten sollte, gehört endlich abgeschafft. Außerdem erwarten wir, dass die Ergebnisse der Tarifrunde systemgerecht auch auf die Beamtinnen und Beamten sowie Versorgungsempfängerinnen und Versorgungsempfänger übertragen werden. Alle Statusgruppen stellen sich den gestiegenen Anforderungen und müssen gleichermaßen von Verbesserungen profitieren.“ Thomas Treff, Landesvorsitzender des dbb in Hamburg, unterstrich: „Die Lebenshaltungskosten steigen immer weiter. Ich denke da nur an die Mieten bei uns in der Hansestadt, und auch bundesweit sieht es in den städtischen Ballungsräumen nicht anders aus. Wer gutes Personal will, muss anständig bezahlen. An Aufgaben mangelt es nicht, wir leben in stürmischen Zeiten. Gerade deshalb ist es so wichtig, auch über Modelle zu sprechen, um die Beschäftigten zu entlasten. Wir brauchen alle an Bord, der Staat darf niemanden verheizen!“ „Die Arbeitgebenden dürfen auf keinen Fall die Chance verpassen, den öffentlichen Dienst wind- und wetterfest zu machen“, resümierte Kai Tellkamp, dbb Landesvorsitzender von SchleswigHolstein. Lobende Worte für das Format der Regionalkonferenz fanden Dietmar Knecht, dbb Vorsitzender von Mecklenburg-Vorpommern, und Olaf Wietschorke, Landesvorsitzender dbb bremen: „Es ist wichtig, dass die Basis zu Wort kommt und es eine überregionale Plattform für konstruktiven Austausch gibt.“ Bei den Regionalkonferenzen wurde auch der Wunsch der Beamtinnen und Beamten des Bundes und der Kommunen sehr deutlich, dass die Einkommensrunde 2025 durch eine deutliche lineare Forderung geprägt sein sollte. Ganz zentral geht es den Beamten neben der Rückführung der Arbeitszeit um den Ausgleich der erheblichen Kaufkraftverluste und die Teilhabe an der allgemeinen Einkommensentwicklung. Die Bundesbeamtengewerkschaften im dbb haben entsprechende Forderungen eingebracht. Zielsetzung ist eine Teilhabe an der allgemeinen Einkommensentwicklung durch eine deutliche lineare Anpassung der Besoldung und Versorgung. Um das durchzusetzen, ist es unerlässlich, dass sich Beamtinnen und Beamte – auch diejenigen im Ruhestand – zahlreich an den bundesweit stattfindenden Kundgebungen und Protesten beteiligen. _ 6 AKTUELL dbb magazin | November 2024

Konjunktur und Investitionen Der öffentliche Dienst ist ein Wirtschaftsfaktor John Maynard Keynes, einer der bedeutendsten Ökonomen des vergangenen Jahrhunderts, hat den Satz geprägt: „Nichts ist so unheilvoll wie eine rationale Investmentpolitik in einer irrationalen Welt.“ Er meint, dass staatliche Investitionspolitik nicht starr sein darf, sondern immer Bezug auf die aktuelle wirtschaftliche Lage haben soll. Noch heute findet Keynes’ Idee, die Wirtschaft in rauen Zeiten durch eine Ausweitung staatlicher Investitionen anzukurbeln, viel Gehör – insbesondere in einer immer irrationaleren Welt. Konjunkturpakete, Steuersenkungen und staatliche Preissubventionen haben die Weltwirtschaft während der Coronapandemie vor dem Kollaps bewahrt. Nach der Pandemie hat sich die Wirtschaft zwar von diesem Schock erholt. Trotzdem führen der extreme Anstieg der Verbraucherpreise sowie die Unsicherheit über die Nachhaltigkeit politischer Entscheidungen und Vorgaben erneut zu verhaltenen Konjunkturprognosen. Der Streit innerhalb der Bundesregierung um den Haushalt 2025, reduzierte Zuweisungen an einzelne Ressorts und die Uneinigkeit im Umgang mit der sogenannten Schuldenbremse sorgen für zusätzliche Brisanz. Keine guten Voraussetzungen also für eine schwierige Tarifrunde für die Beschäftigten von Bund und Kommunen, die zu Recht eine ordentliche Anhebung der Einkommen erwarten? Infrastrukturinvestitionen haben naturgemäß weniger konsumtiven, sondern vielmehr investiven Charakter. Sie wirken langfristig über das betrachtete Haushaltsjahr hinaus. Das gilt insbesondere für Investitionen in die Zukunft des öffentlichen Dienstes. Sie spielen ebenso eine Schlüsselrolle für das langfristige Funktionieren von Staat und Gesellschaft sowie für die Binnenkonjunktur. Infrastruktur schafft Wohlstand Es ist dringend geboten, das Thema staatlicher und öffentlicher Investitionen zu beleuchten. Spätestens seit dem Einsturz der Carola-Brücke Anfang September 2024 in Dresden sollte jedem bewusst sein, wie unerlässlich (Erhaltungs-)Investitionen sind. Hierbei handelt es sich nicht um bloße Schönheitsreparaturen oder Luxusprojekte, sondern um den Schutz von Menschenleben. Dass die Brücke in den frühen Morgenstunden – nur Minuten, nachdem eine Straßenbahn die Stelle passiert hatte – in die Elbe stürzte, war reines Glück. Die Politik darf sich nicht länger auf das sprichwörtliche „Et hätt noch immer joot jejange“ verlassen, denn dieser Ansatz rheinischer Gelassenheit ist hier völlig fehl am Platz. Zwar blieben in diesem Fall schlimmere Folgen aus, abgesehen von den beträchtlichen Sachschäden und den hohen Kosten für den Wiederaufbau. Doch wäre die Brücke während des Berufsverkehrs eingestürzt, hätte es zu einer echten Tragödie kommen können. Eine leistungsfähige Infrastruktur – hierzu zählen neben Brücken insbesondere Straßen, das Schienennetz, die Energieversorgung sowie der Ausbau digitaler Netze – ist eine zentrale Voraussetzung für die Wettbewerbsfähigkeit und das Wachstumspotenzial einer Industrienation wie Deutschland. Zwar verfügt Deutschland grundsätzlich über eine gut ausgebaute Infrastruktur, doch wurden dringend erforderliche Ersatz- und Erhaltungsinvestitionen über Jahre, teils sogar Jahrzehnte, aufgeschoben. In vielen Bereichen hat sich daher ein erheblicher Sanierungsrückstand aufgebaut. Höhere Investitionen in die Infrastruktur tragen letztlich auch zur Erhöhung des Produktionspotenzials und damit zur allgemeinen Wohlstandssteigerung bei. Zudem können verstärkte staatliche Investitionen ein wirksames Mittel zur Überwindung der gegenwärtigen, ausgeprägten Wachstumsschwäche in Foto: Frank Gärtner/Colourbox.de AKTUELL 7 dbb magazin | November 2024

Deutschland sein. Das Land leidet jedoch weiterhin unter einer chronischen Investitionsschwäche, sowohl im privaten als auch im öffentlichen Sektor. Einkommenserhöhungen sind Investitionen Dem öffentlichen Dienst kommt eine zentrale Rolle bei der Beseitigung des Sanierungsstaus zu. Investitionen in den öffentlichen Dienst gehen dabei über IT-Ausstattung und bessere Arbeitsbedingungen hinaus; sie müssen auch angemessene Lohnerhöhungen umfassen. Der demografische Wandel verschärft den Wettbewerb um qualifizierte Fachkräfte. Diese dringend erforderlichen Investitionen können jedoch nur dann wirksam umgesetzt werden, wenn die zuständigen Verwaltungen personell ausreichend ausgestattet sind. Für eine leistungsfähige Infrastruktur ist es unerlässlich, genügend gut ausgebildetes und motiviertes Personal zur Verfügung zu haben. Zwar steht die hohe Qualifikation der Beschäftigten, die tagtäglich dafür sorgen, dass das Land funktioniert, außer Frage. Doch es ist ebenso offensichtlich, dass es an vielen Stellen an Personal mangelt. Dies verschlechtert die ohnehin angespannten Arbeitsbedingungen, die infolge unzureichender Investitionen – etwa in die ITInfrastruktur – bestenfalls noch als akzeptabel bezeichnet werden können. Dieser Kreislauf wirkt sich direkt auf die Motivation der Beschäftigten aus. Es ist daher höchste Zeit, in die Mitarbeitenden zu investieren und im Rahmen der kommenden Einkommensrunde ein klares, positives Signal an die Beschäftigten in Bund und Kommunen zu senden. Die Kaufkraft der Beschäftigten im öffentlichen Dienst muss ebenso gesteigert werden wie die der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Privatwirtschaft. Eine angemessene Lohnerhöhung ist unerlässlich, um den privaten Konsum zu stärken und damit die schwächelnde Konjunktur zu beleben. Andernfalls droht Deutschland in eine lang anhaltende Wirtschaftsflaute abzurutschen, was nicht nur ökonomische, sondern auch gesellschaftliche Verwerfungen zur Folge haben könnte. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, Missverständnisse auszuräumen: Die aktuellen Forderungen im Rahmen der Tarifverhandlungen bei Bund und Kommunen basieren nicht auf überzogenen Ansprüchen oder unangemessener Gier. Der dbb sieht sich zwar regelmäßig mit solchen Vorwürfen konfrontiert, jedoch sind diese nicht zutreffend. Deutlich muss gesagt werden: So kann man die Diskussion nicht führen! Der Verweis auf eine gesunkene Inflationsrate greift zu kurz, da die Preisentwicklung nach wie vor auf einem durch die zweistelligen Steigerungen der vergangenen Jahre stark erhöhten Niveau erfolgt. Zudem stellt die jüngst angekündigte Erhöhung der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung durch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach einen weiteren finanziellen Einschnitt für die Bürgerinnen und Bürger dar. Was spricht also gegen eine Investitionsoffensive in Personal und Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst als Teil der umfassenden Erneuerung der Infrastruktur Deutschlands? Schuldenbremse flexibilisieren, Investitionsregel einführen Die seit Monaten andauernde Debatte über eine mögliche Lockerung – nicht Abschaffung – der Schuldenbremse und über eine Erhöhung der Investitionen, beispielsweise durch ein „Sondervermögen Infrastruktur“ oder durch eine Neuausrichtung der Ressorthaushalte, verdeutlicht eindrücklich, wie umstritten das Thema Investitionen derzeit ist. Es ist festzuhalten, dass die Forderung nach einer Lockerung der Schuldenbremse nicht von unverantwortlichen Risikospielern ausgeht. Vielmehr sind es der Sachverständigenrat, führende Wirtschaftsforschungsinstitute sowie die Deutsche Bundesbank, die eine Modifikation der Schuldenbremse für sinnvoll halten. Vor dem Hintergrund der stagnierenden Baukonjunktur erweist sich auch das oft vorgebrachte Argument, öffentliche Investitionen könnten private Investitionen verdrängen, als wenig überzeugend. Die Folgen der aktuellen fiskalpolitischen Regeln sind eindeutig: Sie erschweren sowohl Investitionen in die Transformation als auch den Erhalt der bestehenden Infrastruktur. Deutschland lebt von der Substanz, und der Verschleiß der vorhandenen Infrastruktur wird nur unzureichend aufgehalten. Erforderlich wäre an dieser Stelle etwa die Einführung einer im Grundgesetz verankerten Investitionsregel, um die notwendigen Zukunftsinvestitionen zu finanzieren. Diese Reform könnte durch eine geringfügige Anpassung der im Grundgesetz festgeschriebenen Schuldenbremse umgesetzt werden, ohne dabei die europäischen Verschuldungsgrenzen zu überschreiten. Dies erfordert jedoch eine koordinierte Anstrengung von Bund, Ländern und Kommunen. Öffentliche Investitionen sind langfristig nicht verloren, sondern entfalten nachhaltige Wirkung. Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) im Auftrag des Bundesfinanzministeriums (BMF) haben staatliche Investitionen einen direkten positiven Einfluss auf private Investitionen und damit auf die wirtschaftliche Entwicklung: Die Studie zeigt, dass ein Euro an öffentlichen Investitionen im Durchschnitt 1,50 Euro an privaten Investitionen nach sich zieht. Eines ist klar: Investitionen in den Ausbau von Schienen- und Straßennetzen, eine bessere Ausstattung von Schulen, Behörden und Dienststellen sowie Maßnahmen zur Förderung von Gesundheits- und Sozialberufen werden nur dann von nachhaltigem Nutzen sein, wenn auch das nötige Personal erhalten und aufgestockt wird. Dafür müssen Bund und Kommunen jetzt erhebliche finanzielle Mittel bereitstellen. Andernfalls drohen langfristige Schäden für Wirtschaft und Gesellschaft, sinkende Steuereinnahmen und weiter schrumpfende finanzielle Spielräume der öffentlichen Haushalte. rh/krz Model Foto: Colourbox.de 8 AKTUELL dbb magazin | November 2024

Der Bundesvorsitzende des BDZ, Thomas Liebel (links), und dbb Vize Waldemar Dombrowski vertraten den dbb beim Beteiligungsgespräch im Bundesministerium des Innern und für Heimat. Reform der Bundesbesoldung Unlogisch, intransparent und enttäuschend Der dbb kritisiert die von der Ampelkoalition geplanten Änderungen an der Besoldung der Beamtinnen und Beamten des Bundes. Der Gesetzentwurf schafft nach Auffassung des dbb neue Probleme. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatte bereits vor vier Jahren einige wegweisende Entscheidungen veröffentlicht. Daraus ergab sich, dass die Besoldung auch beim Bund teilweise nicht grundgesetzkonform ist. „Nun schafft die Bundesregierung es endlich, einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen – und verursacht damit jede Menge neue Probleme“, erklärte Silberbach am 2. Oktober 2024 in Berlin. „Mit diesem Gesetz werden die rechtlichen Mindestanforderungen lediglich durch einige unsystematische, intransparente und temporäre Anpassungen gerade so eingehalten. Gleichzeitig werden damit aber andere im Grundgesetz verankerte Pfeiler des Berufsbeamtentums wie der Leistungs-, Funktions- und Amtsgrundsatz missachtet. Das macht das ganze Konstrukt abermals verfassungsrechtlich bedenklich.“ Bei der Neuregelung hätten offensichtlich rein fiskalische Gründe eine Rolle gespielt, machte der dbb Chef deutlich: „Mit einer sinnvollen, sachgerechten und wertschätzenden Weiterentwicklung der Besoldung hat das jedenfalls nichts zu tun. Die Kolleginnen und Kollegen werden stattdessen vor den Kopf gestoßen. Der Bund wird es zukünftig noch schwerer als bisher haben, die besten Nachwuchs- und Fachkräfte zu gewinnen und zu halten.“ Beim Beteiligungsgespräch zum Gesetzentwurf am 11. Oktober 2024 im Bundesministerium des Innern und für Heimat bekräftigte der zweite Vorsitzende und Fachvorstand Beamtenpolitik des dbb, Waldemar Dombrowski, die Kritik des dbb: „Die Hoffnung der Kolleginnen und Kollegen auf eine stabile und zukunftsorientierte Weiterentwicklung des Besoldungsrechts war groß – doch sie wurden bitter enttäuscht. Stattdessen führt die geplante Reform zu Unwuchten im Besoldungsgefüge, ist in sich widersprüchlich und verfassungsrechtlich äußerst fragwürdig.“ Ein zentraler Kritikpunkt des dbb: Das Bundesverfassungsgericht ging in seinen Entscheidungen bisher von dem tradierten Modell aus, wonach die Besoldung für die Beamtinnen und Beamten des Bundes sowie deren Familien amtsangemessen zu sein hat. Der Ampel-Gesetzentwurf unterstellt jedoch pauschal ein (Ehe-)Partnereinkommen in Höhe der Geringfügigkeitsgrenze. „Ein Teil der Alimentationsverpflichtung wird damit auf den (Ehe-)Partner verlagert. So schleicht sich der Bund aus seiner Verantwortung. Die Folgen für Alleinverdienende und Alleinerziehende sind ebenfalls nicht richtig bedacht worden“, machte Dombrowski deutlich. Das geplante Modell des „Alimentativen Ergänzungszuschlags“ inklu- sive „Abschmelzbeträgen“ mache das geplante Gesamtgefüge zudem unstimmig und intransparent. Der das Besoldungsrecht durchdringende Gedanke des Leistungsgrundsatzes werde zudem absolut außer Acht gelassen. Bei der Einhaltung des Mindestabstandsgebotes habe man sich zudem in erster Linie auf den vom BVerfG geforderten 15-Prozent-Abstand zwischen Grundsicherung und den unteren Besoldungsgruppen konzentriert und Letztere entsprechend erhöht. „Aber wer A sagt, muss auch B sagen“, so Dombrowski. „Eine Erhöhung auch der weiteren Besoldungsgruppen wäre die zwingende Konsequenz gewesen, weil natürlich auch zwischen den Besoldungsgruppen das Abstandsgebot gilt.“ Thomas Liebel, Bundesvorsitzender des BDZ Deutsche Zoll- und Finanzgewerkschaft, erklärte im BMI, dass der Entwurf zwar die minimalen rechtlichen Vorgaben zur Einhaltung des vom Bundesverfassungsgericht geforderten Mindestabstands von 15 Prozent zwischen Beamtenbesoldung und Sozialhilfeniveau erfülle. Jedoch geschehe dies auf höchst unsystematische, leistungsfeindliche und intransparente Art und Weise. Die Forderungen der Gewerkschaften nach einer grundlegenden Weiterentwicklung des Besoldungssystems zugunsten klarer, leistungsgerechter und dauerhaft verfassungsgemäßer Besoldungsstrukturen würden weiterhin ignoriert. „Schon heute ist das Vertrauen vieler Beschäftigter in die Rechtmäßigkeit der gewährten Besoldung aufgrund jahrelang gewährter Unteralimentation erschüttert“, kritisierte Liebel. „Dazu kommt der schwindende Glaube der Bevölkerung, dass der Staat seine Aufgaben noch erfüllen kann. In dieser Situation legt das BMI einen Entwurf vor, der auf Kleckerbetragspolitik hinausläuft.“ Die Aufgabe des Bundes wäre es gewesen, eine klare und transparente Besoldungsstruktur zu schaffen, die dauerhaft eine verfassungsgemäße, leistungsgerechte und attraktive Besoldung gewährleistet. _ © Kerstin Seipt BEAMTE AKTUELL 9 dbb magazin | November 2024

Verkehrspolitik Stoppschild für Sparkurs dbb Vize Volker Geyer hat sich gegenüber Bundesverkehrsminister Volker Wissing besorgt über die Verkehrspolitik der Bundesregierung gezeigt – nicht nur wegen der Unterfinanzierung der Autobahn GmbH. „Das war ein deutlicher Gedankenaustausch und so musste es nach Lage der Dinge auch sein, denn es liegt einiges im Argen“, sagte der stellvertretende Bundesvorsitzende und Fachvorstand Tarifpolitik des dbb, Volker Geyer, nach einem Gespräch mit Bundesverkehrsminister Volker Wissing am 16. Oktober 2024 in Berlin. Im Haushalt der Autobahn GmbH gebe es derzeit eine gravierende Unterdeckung, so Geyer: „Damit lässt sich keine Infrastrukturpolitik gestalten, die den Anforderungen unseres Wirtschaftsstandortes gerecht wird. Wir brauchen eine langfristig angelegte und zuverlässige Finanzierung der Autobahn GmbH.“ Geyer kritisierte darüber hinaus, dass das Ministerium im Umgang mit der Autobahn GmbH nicht immer glücklich und zielführend agiere: „Während man sich fragt, ob der Bund seiner Aufsichtspflicht gegenüber der von Schreckensnachricht zu Schreckensnachricht eilenden Deutschen Bahn überhaupt noch nachkommt, versteigt sich das Ministerium gegenüber der Autobahn GmbH zu kleinteiligem Kontrollaktionismus. Das führte im Alltag bereits zu reichlich Mehrarbeit und Unmut. Auch hier gibt es dringenden Optimierungsbedarf.“ Hermann-Josef Siebigteroth, Bundesvorsitzender der VDStra. – Fachgewerkschaft der Straßen- und Verkehrsbeschäftigten im dbb, machte deutlich, dass es bei der Autobahn GmbH keine Einsparungen auf Kosten der Belegschaft geben dürfe: „Der Minister muss alles tun, um das millionenschwere Defizit zu beseitigen. Sollte ihm das nicht vollständig gelingen, muss aber Konsens bestehen: Mögliche Defizite dürfen nicht auf Kosten der Belegschaft kompensiert werden. Denn das werden wir nicht hinnehmen. Hier fordern wir ein klares Stoppschild.“ _ Bundesverdienstkreuz für Thomas Eigenthaler Auf Anregung der seinerzeitigen DSTG-Bundesleitung wurde dem Ehrenvorsitzenden der Deutschen Steuer-Gewerkschaft (DSTG) und ehemaligen stellvertretenden Bundesvorsitzenden des dbb, Thomas Eigenthaler, das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen. Die Übergabe erfolgte im Rahmen eines Festakts im Neuen Schloss in Stuttgart Anfang Oktober durch den Finanzminister von Baden-Württemberg, Dr. Danyal Bayaz. In seiner Laudatio würdigte Bayaz den vielfältigen Wirkungskreis Eigenthalers: „Es war ihm nicht nur Pflicht, sondern auch Kür, sich für das Steuerrecht und die Finanzverwaltung starkzumachen.“ An seinem Lebenslauf zeige sich, welche Möglichkeiten auch jungen Menschen offenstehen, wenn sie sich für die Steuerverwaltung entscheiden. Eigenthaler habe durch sein umfassendes Steuerwissen und als „Mann der Praxis“ bei den Anhörungen des Finanzausschusses im Bundestag stets überfraktionelle Anerkennung erfahren. Ferner hob Bayaz Eigenthalers Engagement als stellvertretender Vorsitzender im Hochschulrat für öffentliche Verwaltung und Finanzen in Ludwigsburg und seinen Aufgabenbereich als stellvertretender dbb Bundesvorsitzender hervor. Sein Wirken habe „stets eine konstruktive und lösungsorientierte Handschrift“ getragen. In seinen Dankesworten betonte Eigenthaler die enge Verknüpfung der Steuergerechtigkeit mit der Fragilität unserer Demokratie und erinnerte daran, dass die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes einen besonderen Beitrag zum Erhalt und zur Verteidigung der Demokratie leisten. „Ich nehme diese Auszeichnung daher auch stellvertretend für die Kolleginnen und Kollegen der Finanzverwaltung als Wertschätzung für den gesamten Berufsstand entgegen“, so Eigenthaler. Hohe Auszeichnung Thomas Eigenthaler (Mitte) mit dem Vorsitzenden des DSTG-Landesverbandes Baden-Württemberg, Markus Scholl, und der stellvertretenden DSTG-Bundesvorsitzenden Margaret Horb. Bundesverkehrsminister Dr. Volker Wissing im Dialog mit Volker Geyer und Hermann-Josef Siebigteroth (von links). © Jan Brenner © DSTG NACHRICHTEN 10 AKTUELL dbb magazin | November 2024

INTERVIEW Lutz Goebel, Vorsitzender des Nationalen Normenkontrollrates Es besteht ein klarer Zusammenhang zwischen Bürokratie und Politikverdrossenheit Ohne moderne Register kann es keine echte digitale Verwaltung geben. Herr Goebel, jedes Jahr werden auf Bundesebene mehrere Hundert Gesetze und Verordnungen verabschiedet. Wo liegen die größten Hürden beim Abbau von Bürokratie in der deutschen Verwaltung? Dass sich Deutschland beim Bürokratieabbau so schwertut, hat viele Gründe. Ein zentrales Hindernis ist die hohe Komplexität unseres Rechtsrahmens. Wir haben ein stark reguliertes System, das über Jahre gewachsen ist. Neue Gesetze und Verordnungen kommen oft hinzu, ohne dass bestehende Regelungen vereinfacht oder abgeschafft werden. Ein weiteres Problem ist die föderale Struktur. Zuständigkeiten zwischen Bund, Ländern und Kommunen sind oft nicht klar abgegrenzt oder werden unterschiedlich interpretiert. Das führt zu uneinheitlichen Verfahren. Hinzu kommt die schlecht ausgeprägte Fehlerkultur der Verwaltung. Alle Entscheidungen müssen in der Regel bis zum letzten Buchstaben rechtlich abgesichert sein. Es bestehen nicht genug Anreize, Bürokratie abzubauen und vor allem gibt es oft zu wenig „Mut zur Lücke“. Von der schleppenden Digitalisierung möchte ich gar nicht erst anfangen. Dabei liegt hier der Schlüssel für deutlich mehr Bürokratieabbau. Unternehmen und Bevölkerung beklagen eine wachsende Bürokratie, die oft in direktem Zusammenhang mit der Qualität der Gesetzgebung steht. Was muss getan werden, um Gesetze praxistauglicher zu gestalten? Mit dem Digitalcheck und dem Praxischeck stehen seit geraumer Zeit vielversprechende Instrumente zur Verfügung, um Gesetze fit für den Vollzug zu machen. Die Wachstumsinitiative der Bundesregierung macht Hoffnung, dass zumindest eines der Instrumente noch besser genutzt wird und die Gesetzgebungsqualität steigt. Praxischecks sollen zukünftig in allen Ministerien verbindlich eingesetzt werden – ein wahrer Meilenstein für bessere Rechtsetzung und lange eine Forderung des NKR. Wir würden sogar noch einen Schritt weitergehen und Praxischecks auch schon während eines Gesetzgebungsverfahrens durchführen – nicht erst nach Inkrafttreten einer Regelung, wie es momentan der Fall ist. Dadurch könnten Betroffene viel frühzeitiger in die Lösungsfindung und Alternativenabwägung eingebunden werden. Der „Lessons Learned“-­ Effekt wäre ex ante viel größer als ex post – deshalb ist das beim Digitalcheck auch jetzt schon verpflichtend. © Thomas Trutschel/photothek.de 12 FOKUS dbb magazin | November 2024

Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen zunehmender Bürokratie und der wachsenden Politikverdrossenheit in der Bevölkerung? Ich sehe da ganz klar einen Zusammenhang. Wenn Bürger den Eindruck haben, dass politische Entscheidungen zu unnötiger Bürokratie führen und Verwaltungsprozesse kompliziert, intransparent und zeitaufwendig sind, steigt die Frustration. Wer fühlt sich nicht durch die Vielzahl an Regelungen und Formularen überfordert? Das schwächt das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen. Hinzu kommt, dass der Staat in Krisensituationen immer wieder handlungsunfähig wirkt. Statt Probleme pragmatisch anzugehen und schnell zu lösen, wird häufig ein hoher Aufwand für Prüfungen, Dokumentationen und Abstimmungen betrieben. Es fehlen Daten, die Zuständigkeiten sind unklar, jede Entscheidung durchläuft zahlreiche Instanzen und jede Ebene fügt zusätzliche Anforderungen hinzu. Das führt auch dazu, dass Reformen, Infrastrukturprojekte oder Gesetzesvorhaben nur sehr langsam umgesetzt werden. Von der Verwaltungsdigitalisierung ganz zu schweigen. Welche Maßnahmen sind aus Ihrer Sicht notwendig, um die Digitalisierung der Verwaltung entscheidend voranzutreiben? Um die Digitalisierung der Verwaltung wirklich voranzubringen, muss die Diskussion darüber raus aus der Expertennische des IT-Planungsrates. Diese oder spätestens die nächste Bundesregierung sollte den angekündigten Föderalismusdialog zwischen Bund und Ländern endlich starten, um gemeinsam Lösungen zu finden, wie knappe Haushaltsmittel effizienter genutzt werden können. Außerdem sollten bestehende Ansätze, wie etwa der Plattformansatz, besser eingesetzt werden, damit die Verwaltung ihre Leistungen günstiger und einfacher anbieten kann. Wichtig ist auch, dass die Finanzierung und Weiterentwicklung der digitalen Dienste fest eingeplant werden, damit eine langfristige Planung möglich ist. Statt dass jede Behörde eigene Lösungen entwickelt, brauchen wir klare technische Standards und offene Schnittstellen, die alle nutzen können. Das spart nicht nur Geld, sondern macht die Zusammenarbeit auch einfacher. Und schließlich müssen wir dafür sorgen, dass die Qualität der digitalen Services überall gleich hoch ist, indem verbindliche Servicestandards eingeführt werden. Die Digitalisierung der Registerlandschaft gilt als Schlüssel für eine effizientere Verwaltung. Wie bewerten Sie den Fortschritt bei der Registermodernisierung? Und wo sehen Sie noch Verbesserungsbedarf? In den vergangenen Jahren wurden wichtige Schritte unternommen, aber der Fortschritt bei der Registermodernisierung hinkt den Erwartungen deutlich hinterher. Viele verstehen immer noch nicht, dass die Digitalisierung von Verwaltungsleistungen nur dann funktioniert, wenn die zugrunde liegenden Register modernisiert und richtig miteinander verbunden sind. Ohne moderne Register kann es keine echte digitale Verwaltung geben. Deshalb ist es wichtig, die Modernisierung der Register eng mit der Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes zu verknüpfen. Die Erkenntnisse aus den bisherigen Pilotprojekten sollten schnell in allgemeine Empfehlungen und Vorlagen übertragen werden, damit die Behörden effizient weiterarbeiten können. Allerdings müssen wir realistisch sein: Eine komplette Modernisierung der zahlreichen, oft isolierten Register ist in absehbarer Zeit nicht machbar. Daher sollten die Länder ihre Registerlandschaft strategisch überdenken und gezielt verbessern. In welchen Bereichen könnte die Regelungsvielfalt im deutschen Föderalismus eingedämmt werden, etwa durch bundeseinheitliche Staatsverträge oder eine einheitliche Musternormung? Gehört dazu beispielsweise auch das Disziplinarrecht für Beamtinnen und Beamte, um gleiche Disziplinarverfahren in allen Bundesländern sicherzustellen? In einer Vielzahl von Bereichen gibt es Vereinfachungs- und Vereinheitlichungspotenziale. So könnte beispielsweise die Verwaltungsdigitalisierung durch eine Verankerung im Verwaltungsverfahrensgesetz „vor die Klammer“ gezogen werden, statt sie in diversen Fachgesetzen zu regeln. Die Länder würden dies dann mittels Simultangesetzgebung in ihren eigenen Verwaltungsverfahrensgesetzen nachziehen. Ähnliches geht sicher auch für das Disziplinarrecht. Wenn dies über Ländergrenzen hinweg harmonisiert ist, lassen sich die Verfahren verkürzen und der Aufwand verringern. Ein Blick nach Europa: Viele Initiativen der EU-Institutionen führen zu zusätzlichen nationalen Regulierungen. Ist die Europäische Union wirklich das „bürokratische Monster“, als das sie oft dargestellt wird? Fest steht, dass noch nie so viele neue Gesetze auf den Weg gebracht wurden, wie in der letzten Amtsperiode von Ursula von der Leyen. Mehr als die Hälfte der bürokratischen Lasten entstehen mittlerweile durch Richtlinien und Verordnungen aus der EU. Ob Lieferkettenrichtlinie oder Nachhaltigkeitsberichterstattung, Deutschland wird noch lange an den Regulierungsbrocken der vergangenen Jahre kauen. Insbesondere die Wirtschaft sehnt sich nach einer Verschnaufpause bei der Regulierung. Der wachsende Unmut hat die Kommissionspräsidentin jetzt zum Umlenken gebracht. In ihrer Rede als Kandidatin für die neue Amtsperiode hat von der Leyen neue Leitlinien für eine wettbewerbsfähigere EU vorgestellt, in denen Bürokratieabbau eine wichtige Rolle spielt. Der von ihr in Auftrag gegebene Wettbewerbsbericht des ehemaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi setzt ähnliche Schwerpunkte. Das macht Hoffnung. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Deutschland seiner eigenen Verantwortung bei den Verhandlungen in Brüssel gerecht werden und viel aktiver als bisher auf die Vermeidung unverhältnismäßiger Bürokratie drängen muss. Im Europäischen Rat stehen der Bundesregierung dafür alle Wege offen – schon vorab gibt es in Zusammenarbeit mit der Kommission Gestaltungsmöglichkeiten. Voraussetzung ist, als Bundesregierung schneller mit einer Stimme zu sprechen und bei den Verhandlungen von Anfang an die Kostenfolgen für Deutschland einzubeziehen. _ Mehr als die Hälfte der bürokratischen Lasten entstehen mittlerweile durch Richtlinien und Verordnungen aus der EU. FOKUS 13 dbb magazin | November 2024

DOSSIER BÜROKRATIEABBAU NKR-Jahresbericht 2024 Gute Gesetze. Weniger Bürokratie. Der Nationale Normenkontrollrat (NKR) hat am 1. Oktober 2024 seinen Jahresbericht mit dem Titel „Gute Gesetze. Digitale Verwaltung. Weniger Bürokratie. Momentum nutzen, Wirkung steigern“ veröffentlicht. Während die Wirtschaft von Bürokratiekosten entlastet wird, bleibt die Belastung für die Verwaltung hoch. Der dbb fordert Konsequenzen. Gegenüber den Milliardenanstiegen vergangener Jahre verlangsamt sich der Aufwuchs demnach beim Zeitaufwand und den Kosten, die neue Gesetze Jahr für Jahr verursachen: Das Plus in diesem Jahr beträgt insgesamt noch 400 Millionen Euro. Während die Verwaltung einen Anstieg von 821 Millionen Euro schultern muss, wird die Wirtschaft erstmalig seit 2019 um 433 Millionen Euro entlastet. Dabei sinken die durch Informationspflichten verursachten Bürokratiekosten – als Teilmenge des Erfüllungsaufwands der Unternehmen – sogar um 655 Millionen Euro. Verhaltenes Lob für die Bemühungen der Bundesregierung zum Bürokratieabbau hatte der Vorsitzende des NKR, Lutz Goebel, auf der Pressekonferenz zum Halbjahresbericht im Gepäck: „Verhalten deshalb, weil wir nach den milliardenschweren Anstiegen der vergangenen Jahre insgesamt auf einem sehr hohen Aufwandsplateau angekommen sind. Davon müssen wir dringend runter. Die Politik muss sich weiter anstrengen: nicht nur Aufwuchs vermeiden, sondern das Bestandsrecht vereinfachen.“ Deshalb komme die Wachstumsinitiative zur richtigen Zeit. Die Bundesregierung habe einen Abbaupfad angekündigt, allerdings ohne zu sagen, wie ambitioniert er ausfallen soll. „Wir brauchen eine verbindliche Zielgröße: 25 Prozent weniger Bürokratiekosten und Erfüllungsaufwand in vier Jahren! Das wären fünf Milliarden Euro weniger Aufwand, Jahr für Jahr.“ Mit dem in der Wachstumsinitiative enthaltenen Praxischeck, mit dem Ziel, Gesetze so zu vereinfachen, dass unnötige Hürden für die Umsetzung abgeräumt werden, werde bessere Rechtsetzung angestrebt, das habe der NKR lange gefordert. Zusammen mit dem Digitalcheck aus dem Bundesministerium des Innern und für Heimat, dem Bürgercheck aus dem Bundeskanzleramt und dem Zentrum für Legistik – einer zentralen Einrichtung zur Qualifizierung und Forschung in Fragen der praktischen Gesetzgebung – aus dem Bundesministerium der Justiz könnte eine ganz neue Philosophie der Gesetzgebung entstehen. Trotzdem müsse die Bundesregie- © Augustin Farias/Unsplash.com 14 FOKUS dbb magazin | November 2024

rung noch einiges unternehmen, damit die Ankündigungen nicht verhallen. „Die Politik darf das Momentum jetzt nicht vorbeiziehen lassen. Sie muss den dauerhaften Willen aufbringen, den Bürokratieabbau vom Einzel- zum systematischen Regelfall zu machen“, so Goebel. Bürokratieabbau muss Regelfall sein Der Jahresbericht begrüßt die Selbstverpflichtung der Bundesregierung, jedes Jahr ein Bürokratieentlastungsgesetz vorzulegen, damit Bürokratieabbau vom punktuellen Ausnahmefall zum systematischen Regelfall wird. „Die Ankündigung, die Gesamtbelastung beim Erfüllungsaufwand Jahr für Jahr unter den Vorjahreswert zu drücken, muss mit der Festlegung eines konkret messbaren Abbauziels sowie der Verschärfung der ,One in, one out‘-Regel verbunden werden. Ziel sollte es sein, den Erfüllungsaufwand als auch die Bürokratiekosten innerhalb von vier Jahren um 25 Prozent abzubauen“, heißt es in dem Bericht. Bürokratieabbau werde dann spürbar, wenn Gesetze die beabsichtigten Ziele wirksam und zügig erreichen und wenn sie einfach und digital vollzogen werden können. Dazu trügen der flächendeckende Digitalcheck und der punktuelle Praxischeck bei. Der NKR empfiehlt darüber hinaus, Praxischecks auch schon während eines Gesetzgebungsverfahrens einzusetzen, um frühzeitig Lösungen zu finden und Alternativen abzuwägen. Dabei sollten Praxis- und Digitalcheck zusammen gedacht und systematisch auf Basis von Visualisierungen und Prozessmodellen durchgeführt werden. Das grundsätzliche Ziel von Politik und Verwaltung sollte sein, Vereinfachungspotenziale zu erschließen. „Jede Ministerin, jeder Minister ist aufgerufen, nicht nur immer neue Regeln hinzuzufügen, sondern den Rechtsbestand zu evaluieren, zu konsolidieren und zu optimieren“, so die Studienautoren. Aufgabenverteilung überdenken, Digitalisierung forcieren Einen großen Hebel, um bessere Leistungen anzubieten und Effizienzreserven zu heben, sieht der NKR in der Standardisierung von Prozessen und Schnittstellen sowie der Bündelung von Serviceangeboten. Bislang fehle jedoch gerade im Bereich der Digitalisierung eine allgemeine Strategie. So sei das Onlinezugangsgesetz zwar novelliert worden, schrecke aber genauso wie die Registermodernisierung vor weitergehenden Eingriffen in das Kompetenzgefüge von Bund und Ländern zurück. Aus Sicht des NKR wäre der im Koalitionsvertrag vorgesehene Föderalismusdialog der richtige Rahmen für notwendige Reformen. Weiterhin kritisiert der NKR fehlendes Tempo für die Digitalisierung in Deutschland. Auch sei die dafür erforderliche Ressourcenlage ungenügend oder habe sich sogar verschlechtert. „Weder im federführenden BMI noch beim föderal zuständigen IT-Planungsrat sind ausreichend Personal und Finanzmittel vorhanden. Bestehende Minimalbudgets wurden weiter gekürzt, etablierte Services mussten abgeschaltet werden. Eine Priorisierung sieht anders aus“, so der Jahresbericht. Auf europäischer Ebene setzt sich der NKR für eine Verschnaufpause bei der Regulierung ein: „Ob Lieferkettenrichtlinie oder Nachhaltigkeitsberichterstattung – Deutschland kaut noch lange an den Regulierungsbrocken der vergangenen Jahre. Deshalb ist es richtig, wenn die Bundespolitik mit Forderungen an die Kommission herantritt, um die EU-Regulierung zurückhaltender, bürokratieärmer und zielgenauer zu gestalten.“ Zur Wahrheit gehöre auch, dass Deutschland seiner eigenen Verantwortung bei den Verhandlungen in Brüssel gerecht werden und aktiver als bisher auf die Vermeidung unverhältnismäßiger Bürokratie drängen müsse. Im Europäischen Rat stünden der Bundesregierung dafür alle Wege offen. Dazu müsse die Bundesregierung mit einer Stimme sprechen und bei den Verhandlungen von Anfang an die Kostenfolgen für Deutschland einbeziehen. Silberbach: Bürokratiekosten runter, Zukunftsinvestitionen rauf Der dbb unterstützt die Empfehlungen des NKR für Bürokratieabbau und Kostenkontrolle und fordert weitere Investitionen in den öffentlichen Dienst. „Wir kommen von einem sehr hohen Bürokratiekostenniveau, und das muss weiter und vor allem schneller heruntergeschraubt werden“, sagte dbb Chef Ulrich Silberbach in Berlin. „Der Knackpunkt ist, dass die Wirtschaft zwar erstmals seit 2019 von Bürokratiekosten entlastet wird, die Verwaltung aber weiter viel Zeit und Geld für die Erfüllung neuer und bestehender gesetzlicher Vorgaben investieren muss.“ Das sei in Zeiten angespannter Haushalte und fehlender Fachkräfte inakzeptabel und bremse zudem die dringend erforderliche Verwaltungsmodernisierung: „Der dbb unterstützt deshalb die Forderung des NKR, nicht nur Aufwuchs zu vermeiden, sondern das Bestandsrecht zu vereinfachen.“ Um die vom NKR anvisierten 25 Prozent weniger Bürokratiekosten und Erfüllungsaufwand in vier Jahren auch nur annähernd zu erreichen, müsse sich die Bundesregierung konsequenter als bisher ins Zeug legen. „Das kann nur gelingen, wenn die daraus resultierenden Einsparungen in Milliardenhöhe mindestens teilweise als Investitionen in die Verwaltungen zurückfließen, um Personal aufzubauen, die Digitalisierung voranzutreiben und die Strukturen des öffentlichen Dienstes zukunftsfest zu machen.“ br „Die Politik muss den Willen aufbringen, den Bürokratieabbau vom Einzel- zum systematischen Regelfall zu machen.“ Lutz Goebel „Einsparungen in Milliardenhöhe müssen mindestens teilweise als Investitionen in die Verwaltungen zurückfließen.“ Ulrich Silberbach Als unabhängiges Kontroll- und Beratungsgremium zieht der NKR im Jahresbericht Bilanz zum Stand des Bürokratieabbaus und den Bemühungen der Bundesregierung, die Gesetzgebung zu verbessern und die Verwaltung zu digitalisieren. Betrachtet wird der Berichtszeitraum Juli 2023 bis Juni 2024. Der komplette Jahresbericht zum Download: t1p.de/ NKR_Jahresbericht Der NKR-Jahresbericht im Netz FOKUS 15 dbb magazin | November 2024

Bürokratieentlastungsgesetz Kampf gegen Zettelberge Weniger Meldezettel, digitalisierte Arbeitsverträge und Rechtsgeschäfte, eine zentrale Vollmachtsdatenbank für Steuerberatungen – das im September 2024 beschlossene Bürokratieentlastungsgesetz ändert rund 60 Verwaltungsvorschriften. Für Unmut sorgt hauptsächlich die Verkürzung der Aufbewahrungsfristen für Steuerbelege auf acht Jahre. Weniger Zettel, mehr Wirtschaft“, hatte Bundesjustizminister Marco Buschmann versprochen. Da befand sich das Gesetz gegen den „Bürokratie-Burn-out“, das Bürokratieentlastungsgesetz (BEG IV), noch in der Beratung. „Bürger, Betriebe und selbst Behörden sind so erschöpft von immer mehr Gesetzen und Verordnungen, dass sie sich immer weniger um Innovation, Digitalisierung und andere wichtige Fragen kümmern können“, sagte der FDP-Politiker bei der Ersten Lesung des Gesetzes im Bundestag. Das BEG IV darf man sich allerdings nicht als radikales Entschlackungsprogramm vorstellen. Die konkreten Folgen bleiben – zunächst – überschaubar. Meldezettel in Hotels dürfen entfallen – soweit es sich um deutsche Staatsbürger handelt. Die Digitalisierung der Betriebskostenabrechnungen ist nun möglich. Also eher Klein-Klein statt Befreiungsschlag? Ganz richtig sei das so, urteilt die Osnabrücker Staatsrechtlerin Prof. Dr. Pascale Cancik: „Aber man muss sich die Mühe machen, sehr kleinteilig hinzusehen: Welche Pflichten der Unternehmen sind aus Gründen des Gemeinwohls und der Volkswirtschaft notwendig?“, so Cancik in einem Interview zum Thema Bürokratieabbau Ende September gegenüber der Frankfurter Allgemeinen. Cancik weist in einem weiteren Beitrag für dieselbe Zeitung darauf hin, dass der Begriff „Bürokratie“ nicht nur für Beamtenherrschaft und willkürliche, nicht nachvollziehbare Entscheidungen stehe, sondern mit Max Weber auch für rationale, rechtsstaatliche Verwaltung. Kritik aus dem Mittelstand Handwerksverbände hingegen sind enttäuscht vom Gesetz. In der vorliegenden Form leiste das geplante Bürokratieabbaugesetz „leider keine ausreichende Abhilfe“, kritisierte der Generalsekretär des Zentralverbands des Deutschen Handwerks, Holger Schwannecke, das Vorhaben schon bei seiner Vorstellung im Januar. „Das Versprechen der Ampel, überflüssige Bürokratie abzubauen, ist als Tiger gesprungen und als Bettvorleger gelandet. Das Gesetz kann nur Auftakt für weitere Maßnahmen zum Bürokratieabbau sein. Nun müssen weitere entschlossene Schritte folgen, um die mittelständische Wirtschaft spürbar zu entlasten“, sagte Hauptgeschäftsführer Dr. Friedemann Berg vom Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks. Dort sieht man die Chance vertan, „weitreichende Entlastungen auf den Weg zu bringen, die die Belastung von kleinen und mittleren Unterneh16 FOKUS dbb magazin | November 2024

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