dbb magazin 11/2024

Dabei gibt es seit 2015 die sogenannte „One in, one out“-Regel. Neue bürokratische Belastungen dürfen nur in dem Rahmen eingeführt wie sie anderswo abgebaut werden. Ich halte die Regel eher für einen politischen Slogan, der zeigt, in welche Richtung es gehen soll. Für mehr aber auch nicht. Denn sie sagt nichts darüber aus, wie gut oder schlecht ein „One-in“ oder „One-out“ eigentlich ist. Die Qualität kommt in der Betrachtung zu kurz. Davon abgesehen ist es doch so, dass Gesetzgebung aus guten Gründen stattfindet. Sie resultiert daraus, dass es in der Gesellschaft einen Vorfall gibt, auf den die Politik zu reagieren hat, weil bestimmte Interessengruppen das wünschen oder erwarten. Trotzdem ist Bürokratieabbau ein Thema, das viele Menschen bewegt. Inwiefern können wir von anderen Staaten lernen? Das ist zunächst schwierig zu beantworten, da der Staatsaufbau entscheidend dafür ist, wie die Dinge organisiert sind. Deutschland, Österreich und die Schweiz sind föderalistisch organisiert, aber sie sind schon bei näherer Betrachtung schwer zu vergleichen. Grundsätzlich funktionieren föderale Staaten noch einmal anders als zentralistisch organisierte, wie zum Beispiel Skandinavien. Deshalb den Föderalismus insgesamt zu hinterfragen, wäre zu kurz gegriffen. Aber natürlich gibt es Stellschrauben: Staatliches Handeln ist auch das Ergebnis kultureller Haltungen. Und an denen können wir durchaus arbeiten. Absolut gewinnbringend ist etwa der Ansatz in Estland, dass der Staat direkt auf Eltern zukommt und sie fragt, auf welches Konto das Kindergeld überwiesen werden soll. Das spart viel Papierkram und fördert das Image des Staates. In Deutschland und Österreich hingegen funktioniert sehr viel über Anträge, nicht bloß das Kindergeld. Nicht alle kennen ihre Rechte. In der Praxis fühlen sich die Leute betrogen, wenn sie später erfahren, dass sie Ansprüche gehabt hätten, von denen sie vorher nichts wussten. Es gibt junge Leute im öffentlichen Dienst, die nicht damit gerechnet hätten, dass sie noch den Umgang mit einem Faxgerät lernen müssen. Warum hält sich die alte Technik in Deutschland so hartnäckig? Dazu habe ich vor Kurzem Nachforschungen angestellt und die Antwort bekommen, dass die Faxgeräte für viele behördliche Vorgänge oder im Rechtsverkehr aufgrund der Schriftform eindeutig zu identifizieren waren, in Zusammenhang mit dem früheren Postmonopol. Das ist heute anders, aber eine Erklärung, warum sich das Faxgerät eisern hält. Ein kostenloses elektronisches Identifikations- und Signaturverfahren wäre aber sowohl die modernere Technologie als auch in der Wahrnehmung der allermeisten die bürgerfreundlichere Methode. Ausdruck des Rückstandes ist auch, dass viele Verwaltungsprozesse nur halbdigital funktionieren. Wenn ein Antrag digital gestellt wird, heißt das noch lange nicht, dass er auch digital bearbeitet wird. Klar ist: Ein Verwaltungsprozess ist erst digital, wenn der gesamte Prozess digital verläuft. Und nur volldigitalisierte Prozesse bringen die Effizienz, die wir wollen und brauchen. Was wir erleben, ist Ausdruck eines Lernprozesses. Eine digitale Antragstellung bringt bereits Entlastung für die Bürgerinnen und Bürger. Deutschland ist ein großes Land. Man muss Verständnis dafür aufbringen, dass nicht alles so schnell geht wie in Estland. Auch wenn der Status quo so manchen absurd vorkommen mag. Parallel rast der technologische Fortschritt weiter: „Künstliche Intelligenz ist die Dampfmaschine des Wissenszeitalters“, sagte Peter Parycek, Leiter des Kompetenzzentrums Öffentliche IT, auf der Jahrestagung des dbb. Wo sehen Sie Chancen und Risiken der Technologie? KI basierend auf Sprachmodellen wird sehr rasch in der Lage sein, Standardbescheide zu erledigen. Darin steckt eine große Chance, weil so Humanressourcen für Bereiche frei werden, wo die Kommunikation von Mensch zu Mensch wichtig ist, zum Beispiel im Bildungs-, Sozial- oder Gesundheitsbereich oder bei besonderen Bürgerbedürfnissen. Die Technologie kann auch wertvolle Unterstützung leisten, wenn es um die Bereitstellung von allgemeinen Informationen geht. Algorithmen für komplexe Rechenoperationen werden aber unter anderem bereits in den Steuerverwaltungen eingesetzt und können Trends oder Muster frühzeitig erkennen. Ganz wesentlich für den Einsatz von KI sind die Wahrung der Rechtssicherheit und der Schutz vor Willkür – also im Prinzip das, was auch die Bürokratie im Idealfall leisten soll. Die künstliche Intelligenz bildet alle Risiken und Irrtümer ab, denen auch der Mensch selbst unterliegt. Sie neigt zu polarisierten Betrachtungen und einseitigen Sichtweisen, wenn sie auf Grundlage homogener Personengruppen trainiert wird. Deshalb ist die viel besagte Diversität so wichtig, wenn wir mit künstlicher Intelligenz arbeiten, insbesondere in der Verwaltung. Blicken wir in die Zukunft: Was würden Sie der Politik mitgeben, um den Bürokratieabbau voranzutreiben? Für mich ist wesentlich, dass wir bei den Standardverfahren schneller und digitaler werden. Also überall dort, wo relativ einfache Daten einzugeben sind, die dann zu verschiedenen Auskünften und Bescheiden führen. Außerdem müssen wir in Teilen von einer Misstrauenskultur weggekommen, die jedes noch so kleine Risiko rechtlich absichern will, und eine Vertrauenskultur aufbauen, die pragmatische Lösungen im Interesse des Gemeinwohls ermöglicht, unter Zuhilfenahme der technologischen Möglichkeiten. All das erfordert noch viel Investment. Das Gespräch führte Christoph Dierking. _ Iris Rauskala © Verwaltungshochschule Ludwigsburg FOKUS 19 dbb magazin | November 2024

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