dbb magazin 12/2024

dbb magazin 12 | 2024 Zeitschrift für den öffentlichen Dienst Interview | Kai Wegner, Regierender Bürgermeister von Berlin Freiwillige | Wenn Bürger Staat machen Ehrenamtliches Engagement | Sozialer Kitt für die Gesellschaft

Gleichgewicht in Gefahr Deutschland kann sich glücklich schätzen, denn ehrenamtliches Engagement genießt hierzulande einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert. Millionen von Menschen setzen sich freiwillig und unentgeltlich für das Gemeinwohl ein. Ob im sozialen Bereich, in der Katastrophenhilfe, im Sport oder in der Kultur – ohne ehrenamtliches Engagement wäre unsere Gesellschaft ärmer. Diese beeindruckende Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger darf nicht als Ausrede für politische Untätigkeit missbraucht werden. Kernaufgaben des Staates sind und bleiben unter anderem soziale Absicherung und die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse. Doch in einigen Bereichen ist ein schleichender Rückzug des Staates zu beobachten. Wenn Pflegeheime auf ehrenamtliche Helfer angewiesen sind, um die Grundversorgung sicherzustellen, Tafeln dauerhaft die Versorgung von Bedürftigen übernehmen oder Schulsozialarbeit nur durch Fördervereine ermöglicht wird, läuft etwas aus dem Ruder. Ehrenamtliches Engagement ist eine wertvolle Ergänzung, darf aber nicht zum Ersatz für staatliche Leistungen werden. Der Staat hat die Pflicht, eine ausreichende finanzielle und personelle Ausstattung zentraler öffentlicher Daseinsvorsorge sicherzustellen. Wenn Ehrenamtliche einspringen, um Löcher zu stopfen, die eigentlich nie hätten entstehen dürfen, führt das zu einer schleichenden Aushöhlung des Sozialstaats. Die Politik muss handeln, bevor die Balance kippt. Sonst riskieren wir die Überlastung der Ehrenamtlichen und den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Das Ehrenamt ist eine tragende Säule unserer Gemeinschaft – ihr Fundament aber bleibt der Staat. br 12 8 14 TOPTHEMA Ehrenamt 26 AKTUELL IN EIGENER SACHE Bundestagswahl: Wir werden uns einmischen! 4 NACHRICHTEN Anhörung zum SGB-III-Modernisierungs- gesetz: Wichtiger Schritt zu flexibler und digitaler Arbeitsberatung 5 TARIFPOLITIK Beschäftigte von Bund und Kommunen: Eine antiquierte Arbeitswelt passt nicht zu modernen Lebensentwürfen 6 EUROPÄISCHER ABEND USA und Europa: Perspektiven und deutsche Verantwortung 8 FOKUS INTERVIEW Kai Wegner, Regierender Bürgermeister von Berlin 12 DOSSIER EHRENAMT Freiwillige: Wenn Bürger Staat machen 14 Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt: Rückendeckung für Unterstützer 18 Im Gepräch: Katarina Peranić – Das Ehrenamt leidet unter Bürokratie 19 MEINUNG Ehrenamt braucht Unterstützung: Warum ein funktionierender Staat essenziell ist 21 STAAT UND GESELLSCHAFT Gemeinnütziges Engagement: Als Wahlhelfer im Einsatz für die Demokratie 22 GESUNDHEITSPOLITIK Pflegeversicherung: System unter Druck 24 ONLINE Energieversorgung von Rechenzentren: KI und Kohle 26 INTERN SOZIALVERSICHERUNG Selbstverwaltertage von dbb und GdS: Mehr Selbstbewusstsein für die Selbstverwaltung 28 FRAUEN Hauptversammlung der dbb bundesfrauenvertretung: New Work und politische Beben 33 SERVICE Impressum 41 KOMPAKT GEWERKSCHAFTEN 44 STARTER Foto: Colourbox.de AKTUELL 3 dbb magazin | Dezember 2024

IN EIGENER SACHE Bundestagswahl Wir werden uns einmischen! Im Wahlkampf zur vorgezogenen Bundestagswahl sollte die Politik die Sorgen des öffentlichen Dienstes ernst nehmen. dbb Chef Ulrich Silberbach ruft dazu auf, aktiv zu werden. Die Ampel ist Geschichte. Selbst un- ter ihren wenigen noch verbliebenen Fans ist dieser Tage so etwas wie Erleichterung zu spüren. Denn jenseits parteipolitischer Präferenzen muss man feststellen: Es herrschte am Ende in erster Linie nur noch hektischer Stillstand. Zu viele Themen sind unerledigt geblieben, das Vertrauen der Menschen in Politik und Staat hat merklich gelitten. Die Beschäftigten in allen Bereichen des öffentlichen Dienstes spüren das sehr direkt: wenn sie im Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern feststellen, dass einige immer skeptischer und/oder aggressiver auftreten. Der schlechte Zustand unserer politischen Kultur ist längst keine Stilfrage mehr, er bedroht Demokratie und Gesellschaft. Der Zauber des (Neu-)Anfangs wird sich jedoch nicht von selbst einstellen. Auch wenn das Parlament neu gewählt und eine Regierung gebildet ist, verschwinden unsere Probleme nicht: Die Brücken im Land werden weiter bröckeln, wir werden bei der Digitalisierung weiter europäischen Standards hinterherhecheln und es wird vor allem weiterhin an der Einsicht fehlen, dass unser Gemeinwesen von einem funktionierenden öffentlichen Dienst lebt. Ein öffentlicher Dienst, der in die Lage versetzt wird, seine anspruchsvollen und ständig wachsenden Aufgaben vernünftig zu erfüllen. Das mag in den Ohren genervter Haushälter nach unvermeidlichem Gewerkschaftsgemecker klingen. Wer jedoch die Nachrichten eines beliebigen Tages zur Kenntnis nimmt, stellt fest: Eine Vielzahl an Problemen ist tatsächlich nur mit einem funktionsfähigen öffentlichen Dienst zu lösen – und nicht mit einer Daseinsvorsorge im permanenten Notdienstmodus. Das gilt für die innere Sicherheit genauso wie für Bildung, sozialen Frieden und Infrastruktur. Im kurzen Wahlkampf werden viele Versprechen gemacht werden. Sie werden in der Praxis nur zu halten sein, wenn die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in die Lage versetzt werden, die (seit Jahren wachsenden) politischen Vorgaben umzusetzen. Dass das angesichts der Alterspyramide im öffentlichen Dienst perspektivische Vorarbeiten braucht, wird im Wahlkampf jedoch keine Rolle spielen. Deshalb werden wir uns einmischen – und uns nicht mit Lippenbekenntnissen zufriedengeben! Die Anliegen des öffentlichen Dienstes müssen Eingang in die Wahlprogramme finden und – wichtiger noch – ins Koalitionspapier der künftigen Regierungskoalition. Jetzt muss für alle das Land an erster Stelle stehen, nicht persönliche oder parteipolitische Befindlichkeiten. Von der nächsten Bundesregierung erwarte ich volle Konzentration auf das Wesentliche: Dazu gehören Investitionen in die und ein klares Bekenntnis zur öffentlichen Daseinsvorsorge. Wir artikulieren unsere Kritik gegenüber der Politik. Die Parteien müssen die Unzufriedenheit der Beschäftigten mit der gegenwärtigen Situation und ihre Erwartungen ernst nehmen. dbb Mitglieder können direkt Einfluss nehmen: Gehen Sie auf die Wahlwerbenden in den Städten und Gemeinden zu! Stellen Sie kritische Fragen nach der Zukunft des öffentlichen Dienstes und des Berufsbeamtentums! Lassen Sie sich die Konzepte der Parteien für den öffentlichen Dienst erläutern! Fordern Sie politische Unterstützung ein! Ulrich Silberbach, Bundesvorsitzender des dbb © Andreas Pein Ulrich Silberbach 4 AKTUELL dbb magazin | Dezember 2024

Anhörung zum SGB-III-Modernisierungsgesetz Wichtiger Schritt zu flexibler und digitaler Arbeitsberatung Die Bundesregierung will die Arbeitsförderung mit einer Reform des Dritten Sozialgesetzbuchs (SGB III) effizienter und unbürokratischer gestalten. dbb Vize Waldemar Dombrowski hat dazu am 5. November 2024 auf einer Anhörung im Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales in Berlin als Sachverständiger Stellung genommen. Dombrowski sieht den Gesetzesentwurf auf dem richtigen Weg: „Der Fachkräftemangel ist mittlerweile auf dem gesamten Arbeitsmarkt angekommen und betrifft den öffentlichen Dienst genauso wie die Privatwirtschaft. Deshalb begrüßen wir jede Initiative, die Beratungs- und Vermittlungsprozesse flexibler zu gestalten – und zwar sowohl für die Beschäftigten vor Ort als auch für die Menschen, die einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz suchen“, sagte er im Anschluss an die Anhörung. Der dbb hatte zuvor in einer schriftlichen Stellungnahme diverse Regelungen begrüßt, einzelne aber auch für kritisch befunden. Beratungsgespräche auch digital „Es gilt anzuerkennen, dass die Bundesagentur für Arbeit das Onlinezugangsgesetz bereits umgesetzt hat und den Weg der Digitalisierung seit mehreren Jahren erfolgreich beschreitet. Über 70 Dienstleistungen werden mittlerweile elektronisch angeboten“, hob Dombrowski hervor. Der zweite Vorsitzende des dbb kennt als ehemaliger Bundesvorsitzender des vbba – Gewerkschaft Arbeit und Soziales die Tücken in der Praxis vor Ort und weiß, wo es noch klemmt. Beratungsgespräche müssten nicht zwingend in Präsenz stattfinden, erklärte Dombrowski. Es müsse aber der notwendige Qualitätsanspruch gewahrt werden: „Wir gehen davon aus, dass Erstgespräche im Regelfall persönlich geführt werden sollten, um dem ganzheitlichen und zugleich individuellen Beratungsansatz gerecht zu werden.“ Zugleich betonte er, dass für Beratungsgespräche in digitaler Form das gleiche Zeitvolumen wie bei Präsenzberatungen anzusetzen ist. „Der besondere Fokus, den das Gesetz auf junge Menschen mit zum Teil multiplen Vermittlungshemmnissen richtet, ist richtig“, machte Dombrowski in der Anhörung deutlich. „Die weitere Stärkung der Jugendberufsagenturen beziehungsweise der Netzwerkarbeit ist ein wichtiger Schritt, um alle beteiligten Akteure in den Integrationsprozess einzubeziehen. So wird auch verhindert, dass Jugendliche zwischen den Beratungsinstanzen verloren gehen.“ Knackpunkte Personal und Kooperation Regelmäßig gehen Politiker auf Reisen, um ausländische Fachkräfte anzuwerben. „Dahinter steckt eine wichtige Intention. Allerdings gestaltet sich die Anerkennung von Bildungs- und Berufsabschlüssen, besonders aus Drittstaaten, immer noch bürokratisch und langwierig“, kritisierte Dombrowski. Nun werde, wie vom dbb gefordert, die Anerkennungs- und Qualifizierungsberatung verstetigt, um ausländische Fachkräfte besser in die Arbeit navigieren zu können. „Wir begrüßen ausdrücklich, dass diese komplexe Beratungsleistung in die Arbeit der Agenturen für Arbeit eingebunden wird. Allerdings ist dafür dauerhaft die erforderliche Personalausstattung sicherzustellen.“ Kritisch sieht Dombrowski zudem die fehlende Verbindlichkeit eines Kooperationsplans, der in das SGB III einfließen soll, „weil sonst der bewährte Grundsatz des Förderns und Forderns aus der Balance gerät“. Klar kommunizierte Spielregeln von Beginn an seien fair und fördern ein vertrauensvolles Miteinander. „Sie treiben keinesfalls einen Keil zwischen Beratende und Arbeitssuchende, wie dies leider gelegentlich suggeriert wird“, stellte der dbb Vize klar. _ NACHRICHTEN Waldemar Dombrowski (rechts) vertrat die Interessen des dbb im Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales. © Jobcenter Berlin-Lichtenberg © dbb AKTUELL 5 dbb magazin | Dezember 2024

TARIFPOLITIK Beschäftigte von Bund und Kommunen Eine antiquierte Arbeitswelt passt nicht zu modernen Lebensentwürfen Außer Einkommensforderungen steht die Arbeitszeit der Kolleginnen und Kollegen bei Bund und Kommunen im Fokus der Einkommensrunde 2025. dbb Tarifchef Volker Geyer erklärt, warum das Thema bewegt. Im Forderungspapier an die Arbeitgeber von Bund und Kommunen, das mit der Einkommensforderung am 9. Oktober 2024 vorgelegt worden ist, haben die Gewerkschaften dem Thema Arbeitszeit viel Raum gegeben. „Die Vorgeschichte dazu ist länger, als man meinen könnte“, sagt Geyer. Fachgewerkschaften und Gremien haben das Thema schon vor der Coronapandemie intensiv und facettenreich diskutiert. In besonders belasteten Teilbereichen des öffentlichen Dienstes seien bereits erste Arbeitszeitaspekte verhandelt und tarifiert worden. „Corona und Inflation haben das Thema dann zwischenzeitlich in den Hintergrund gedrängt, weil die explodierenden Verbraucherpreise uns alle zu einer anderen Prioritätensetzung gezwungen haben. Aber das Thema war nie wirklich verschwunden und zum Beispiel auf unseren Regionalkonferenzen zur Vorbereitung der Einkommensrunde dann wieder ein viel diskutierter Aspekt.“ Grundsätzlich steht für den dbb die lineare Forderung im Zentrum der Einkommensrunde. Die vielfältige Diskussion über Arbeitszeit, die aus der Vielfalt der Berufsbilder der im dbb organisierten Gewerkschaften resultiert, hat gezeigt, wie unterschiedliche Berufsrealitäten zu unterschiedlichen Arbeitszeitwünschen führen. „Verbindendes Element war der Wunsch, flexibler und selbstbestimmter arbeiten zu können. Pflege, Erziehung und Freizeit leichter in Einklang mit dem Beruf zu bringen, war ein wichtiger Punkt. Aber es ging auch vielfach um Entlastung. Das haben die älteren Kolleginnen und Kollegen vorgebracht, aber nicht nur die. Es gibt im öffentlichen Dienst viele Berufe mit starker psychischer und physischer Belastung. Hier ist das Stichwort Entlastung von essenzieller Bedeutung.“ Neben dem Entlastungsaspekt sollen aber auch die Attraktivität und die Konkurrenzfähigkeit des öffentlichen Dienstes gesteigert werden, „und da sind die Rahmenbedingungen von Arbeit entscheidend, um qualifizierte Nachwuchskräfte für die Berufe des öffentlichen Dienstes zu begeistern“, erläutert der dbb Vize, der sich sicher ist, dass viele der rund 570 000 offenen Stellen, für die sich derzeit keine Bewerberinnen und Bewerber finden, besetzt werden können, wenn die Arbeitszeitformate attraktiver sind. Dass Politik und der Wirtschaft stattdessen lieber Bilder aus den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts beschwören, die die Lebensrealität der Menschen heute einfach nicht mehr betreffen, gefällt Geyer überhaupt nicht: „Einfach nur zu fordern, die Leute sollen die Ärmel hochkrempeln und zum Beispiel weniger in Teilzeit gehen, greift viel zu kurz. Die Menschen haben heute ein anderes Leben zu organisieren als zu Zeiten, in denen die Hausfrau und der berufstätige Mann noch die Norm waren.“ Wenn sich die Lebensrealität der Kolleginnen und Kollegen verändert, müsse sich das auch in der Arbeitswelt widerspiegeln. „Die Lebensentwürfe werden diverser. Wir haben mehr Patchworkfamilien, mehr Alleinerziehende und mehr Menschen, die neben ihrem Job mit Care-Arbeit, etwa der Pflege von Angehörigen, belastet sind. Viele von ihnen engagieren sich neben ihrem anstrengenden Tagesgeschäft in ihrer Gewerkschaft, um für modernere Arbeitswelten im öffentlichen Dienst einzutreten.“ Deswegen passt es für Geyer auch in die Zeit, in einer der großen Einkommensrunden einen Mitgliederbonus, konkret einen zusätzlichen Urlaubstag für Gewerkschaftsmitglieder, zu fordern. Immerhin seien es die Mitglieder, die mit ihren finanziellen Beiträgen und mit ihrer Aktionsbereitschaft dafür sorgen, „dass wir in der Lage sind, tarifautonom Verhandlungen zu führen. Zur gleichen Zeit bekommen die vielen Trittbrettfahrer, die sich an nichts beteiligen, die erzielten Abschlüsse jeweils auch gutgeschrieben. Das sorgt bei den Kolleginnen und Kollegen, die vor Ort fleißig ehrenamtlich tätig sind, für spürbaren Frust.“ _ © Campaign Creators/Unsplash.com 6 AKTUELL dbb magazin | Dezember 2024

HOCHSCHULEN Wissenschaftsstandort Deutschland Spitzenforschung duldet keine prekären Jobs Deutschland gilt international als bedeutender Wissenschafts- und Forschungsstandort. Seine Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit stehen im unmittelbaren Zusammenhang mit den Wissenschaftlerinnen, Forschern und Beschäftigten im Hochschulbereich. Deren Beschäftigungsbedingungen sind derzeit durch Unsicherheit, prekäre Arbeitsverhältnisse und mangelnde Attraktivität geprägt. Angesichts grundlegender Transformationsprozesse besteht dringender Handlungsbedarf, um den Wissenschaftsstandort Deutschland zu erhalten und dessen Attraktivität zu verbessern. Beinahe alle akademischen Beschäftigten unterhalb der Professur sind von befristeten Arbeitsverträgen betroffen. Diese damit verbundene Unsicherheit beeinträchtigt nicht nur den Aufbau der wissenschaftlichen Karrieren, sondern auch das persönliche Leben der Forschenden. „Befristete Arbeitsverträge führen für die Betroffenen zu einer unklaren Lebensplanung, sie erschweren den Zugang zu Krediten, verhindern langfristige Verbindlichkeiten, verzögern die Familiengründung und hindern die Kolleginnen und Kollegen daran, sich für bessere Arbeitsbedingungen einzusetzen, weil sie Angst haben, dass ihre Verträge nicht verlängert werden“, kritisiert Prof. Dr. Thorsten Köhler, Bundesvorsitzender des Verbandes Hochschule und Wissenschaft (vhw). Auch die Besoldung der Professorinnen und Professoren erweist sich als problematisch. Dabei hatte die Reform der Professorenbesoldung, deren Umsetzung bis 2005 erfolgt ist, das Ziel, Leistung zu fördern und zu honorieren. In der Praxis weisen die Besoldungssysteme jedoch mit fehlenden Stufenaufstiegen und der Problematik nicht ruhegehaltsfähiger Leistungsbezüge deutliche Defizite auf: „Diese zusätzlichen Bezüge sind oft befristet, intransparent und variieren erheblich von Hochschule zu Hochschule“, sagt Köhler. Es bestehe zudem die Gefahr von Interessenkonflikten, weil die Entscheidung über die Vergabe von Leistungsbezügen in der Regel Funktionsträgerinnen und -trägern obliege, deren Funktionszulagen aus demselben gedeckelten Vergaberahmen stammen wie die Leistungsbezüge. „Die Abhängigkeit von Drittmitteln und befristeten Leistungszulagen führt zu Unsicherheit und ungleicher Behandlung, was dem Anspruch auf leistungsgerechte Bezahlung widerspricht. Zudem wurde mehrfach höchstrichterlich entschieden, dass die Professorenbesoldung nicht dem Grundsatz der amtsangemessenen Alimentation entspricht. Deshalb müssen die Leistungsbezüge für alle zugänglich und so gestaltet sein, dass sich ein klar definierter und damit einklagbarer Rechtsanspruch auf die Gewährung von Leistungsbezügen ergibt“, fordert Köhler. Die aktuellen Rahmenbedingungen in der Wissenschaft gefährden das Potenzial des Wissenschaftsstandorts Deutschland – nicht zuletzt, weil Wissenschaft und Innovation angesichts der zahlreichen Transformationsprozesse wichtiger denn je für die internationale Konkurrenzfähigkeit Deutschlands sind. Die fortschreitende digitale und ökologische Transformation bringe weitreichende Auswirkungen auf Gesellschaft, Staat und Wirtschaft mit sich, ist Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing, Bundesvorsitzende des Deutschen Philologenverbandes (DPhV) und Vorsitzende der dbb Fachkommission Schule, Bildung und Wissenschaft, überzeugt. Bisherige Geschäftsmodelle, Produktionsprozesse und Standorte geraten zunehmend unter Druck. Schlüsselindustrien wie die Automobilbranche, die wesentlich für den Wohlstand Deutschlands verantwortlich sind, stehen vor einem grundlegenden Wandel. LinKlitzing: „Unser Wohlstand liegt nicht in Bodenschätzen. Er steckt in der Innovationsfähigkeit unserer Ingenieure und Ingenieurinnen, in gut ausgebildeten Medizinern und Medizinerinnen und in Forschenden aller relevanten Wissenschaftsbereiche. Damit wir weiterhin auf gute Forschung und Lehre bauen können, brauchen wir im Kampf um die besten Köpfe exzellente Arbeits- und Rahmenbedingungen für die Lehre. Die veränderte geopolitische Lage verschärft diese Situation abermals und stellt veränderte Anforderungen an Deutschlands Stellung in der Welt“. Die Herausforderungen erforderten innovative Lösungen und wissenschaftliche Exzellenz. „Exzellente Forschung gelingt nur mit exzellenten Beschäftigungsbedingungen für alle Hochschulbeschäftigten.“ Der dbb fordert von der Politik deshalb nicht nur eine ausreichende Grundfinanzierung der Hochschulen, sondern auch die zügige Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes sowie eine angemessene Besoldung der Professoren und Professorinnen, die der Bedeutung ihres Berufsfeldes gerecht wird – Prioritäten, die unabhängig von aktuellen politischen Unwägbarkeiten gesetzt werden müssen. os Model Foto: Colourbox.de AKTUELL 7 dbb magazin | Dezember 2024

EUROPÄISCHER ABEND Die außenpolitischen Leitlinien der Bundesrepublik Deutschland müssen auch nach der vorgezogenen Bundestagswahl und der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten die Weiterentwicklung der Europäischen Union und der transatlantischen Partnerschaft sein, fordert der dbb. Auf dem 34. Europäischen Abend am 12. November 2024 diskutierten hochrangige Gäste aus der Bundespolitik im dbb forum berlin über die Zukunft der wichtigsten Bündnisse in politisch herausfordernden Zeiten. Die transatlantischen Beziehungen werden für Deutschland wie auch für die Europäische Union von grundlegender Bedeutung bleiben. Daher wird es unverzichtbar sein, den Dialog mit der kommenden US-Administration zu führen, auch wenn ein rauerer Wind aus Washington wehen sollte. Deutschland muss dabei seiner Verantwortung gerecht werden und trotz des heraufziehenden Wahlkampfs parteiübergreifend klare Signale an alle Partner senden: Gemeinsam wollen wir Demokratie und Rechtsstaat verteidigen“, sagte dbb Vize Andreas Hemsing beim Europäischen Abend. Klare Signale bräuchten auch die Bürgerinnen und Bürger, so Hemsing weiter: „Die Verunsicherung der Menschen spüren wir im öffentlichen Dienst sehr deutlich, denn unsere Kolleginnen und Kollegen stehen tagtäglich im Kontakt mit ihnen. Verunsicherung aber ist Gift für die liberale Demokratie und die Abwehrkräfte gegen Populismus, der unsere rechtsstaatlichen Grundsätze porös werden lässt. Auch deshalb sind eine stabile europäisch-atlantische Ordnung und die Absicherung gegen eine autoritäre Umformung unserer Gesellschaft für uns im öffentlichen Dienst von allergrößter Bedeutung.“ „Es wird unverzichtbar sein, den Dialog mit der kommenden US-Administration zu führen, auch wenn ein rauerer Wind aus Washington wehen sollte.“ Andreas Hemsing USA und Europa Perspektiven und deutsche Verantwortung © Marco Urban (8) 8 AKTUELL dbb magazin | Dezember 2024

„Deutschland braucht die transatlantische Beziehung zu den USA und darf sie nicht abbrechen.“ Verena Hubertz „Bei der Modernisierung der Bundeswehr müssen wir europäische Synergien nutzen.“ Andreas Jung Die Vizepräsidentin der Europa-Union Deutschland, Chantal Kopf, betonte zur Eröffnung des Europäischen Abends, dass die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten und das Aus der Ampelkoalition gezeigt hätten, dass es mehr denn je „aller Demokratinnen und Demokraten für ein geeintes und starkes Europa“ bedürfe. Es sei zudem an der nächsten Bundesregierung, sich in den Prozess der anstehenden EU-Erweiterungen einzubringen. „Insgesamt geht es jetzt mehr denn je darum, nationale und europäische Interessen zu verbinden“, analysierte Kopf. Das gelte für ein gesamtpolitisches Denken der Migrationspolitik ebenso wie für klare Konsequenzen für antidemokratische Tendenzen. In der anschließenden Diskussion widmeten sich die Bundestagsabgeordneten Verena Hubertz (stellvertretende SPDFraktionsvorsitzende), Andreas Jung (stellvertretender CDUBundesvorsitzender), Agnieszka Brugger (stellvertretende Grünen-Fraktionsvorsitzende) und Bijan Djir-Sarai (FDP-Generalsekretär) den Perspektiven für das Verhältnis zwischen den USA und Europa – sowie der deutschen Verantwortung dafür. Auf die Frage, ob Deutschland auf eine zweite Amtszeit von Donald Trump vorbereitet sei, antwortete Verena Hubertz mit Ja. Die Regierung habe alle Eventualitäten durchdacht. Wie es nun tatsächlich kommt, könne niemand vorhersehen. Fakt sei jedoch: „Deutschland braucht die transatlantische Beziehung zu den USA und darf sie nicht abbrechen.“ Hinsichtlich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit sei es aber – etwa mit Blick auf die Diskussion um Strafzölle – unerlässlich, dass die Europäische Union geschlossen auftrete. Hier gebe es noch Luft nach oben: Beispielsweise hätten noch nicht alle europäischen Staaten das Wirtschafts- und Freihandelsabkommen mit Kanada (CETA) in nationales Recht umgesetzt. „Es darf nicht sein, dass sich die Welt fünfmal dreht, bevor wir etwas zustande bekommen. Wir müssen unsere PS auf die Straße bringen.“ Andreas Jung zeigte sich überzeugt: „Trump beeindruckt wirtschaftliche Stärke. Wir sollten aber nicht gegenseitig Zollgrenzen hochziehen. Stattdessen sollten wir für beide Seiten, die europäische und die transatlantische Partnerschaft, das Beste herausholen.“ Von einer besseren innereuropäischen Zusammenarbeit erhofft sich Jung für Deutschland insbesondere, dass etwa in der Energie- und Sicherheitspolitik vorhandene Synergien genutzt werden können: „In der Energiepolitik haben wir enge Partnerschaft gelobt, aber uns nicht auf eine Strategie geeinigt. Wir brauchen den Anspruch, die Dinge zusammenzubringen.“ Auch bei der Modernisierung der Bundeswehr gehe es nicht nur um Geld: „Wir müssen auch hier europäische Synergien nutzen.“ „Insgesamt geht es jetzt mehr denn je darum, nationale und europäische Interessen zu verbinden.“ Chantal Kopf AKTUELL 9 dbb magazin | Dezember 2024

„Die zweite Amtszeit Trumps wird mit Sicherheit noch schlimmer als die erste“, warnte Agnieszka Brugger und sah ebenfalls Handlungsbedarf hinsichtlich der deutschen und europäischen Sicherheit: „Wir müssen uns bei den Verteidigungsausgaben in Richtung drei Prozent bewegen und die transatlantische Zusammenarbeit durch ein Netz von Kooperationsabkommen mit anderen Weltregionen ergänzen.“ Sie wies zudem darauf hin, dass Trump bereits in seiner ersten Amtszeit immer wieder – teils erfolgreich – versucht habe, die Europäer gegeneinander auszuspielen. „Er wird es wieder versuchen, gerade beim Thema Sicherheit. Also müssen wir in den nächsten Jahren massiv in die europäische Sicherheit investieren. Notfalls auch im Rahmen eines weiteren Sondervermögens.“ Bijan Djir-Sarai beantwortete die Frage, ob Deutschland gut auf eine zweite Amtszeit von Donald Trump vorbereitet sei, im Gegensatz zu Hubertz mit einem klaren Nein. Die USA würden zukünftig eine „knallharte Interessenpolitik“ betreiben und sich auf die wirtschaftliche Auseinandersetzung mit China fokussieren. „Warum soll der amerikanische Steuerzahler die europäische Sicherheit finanzieren? Unter diesen Umständen brauchen wir mehr Europa. Wir müssen unsere Interessen artikulieren und unsere gemeinsamen Werte hochhalten.“ Mit Blick auf den Krieg in der Ukraine äußerte Djir-Sarai die Sorge, dass „am Ende ein Diktatfrieden stehen könnte“, der zudem die Basis für weitere Konflikte biete. Auch hier müsse die EU sich stark und geschlossen präsentieren: „Die Putins dieser Welt beeindrucken wir nur mit wirtschaftlicher Stärke.“ ada, br, cdi, dsc, ef, zit „Es ist ratsam, die transatlantische Zusammenarbeit durch ein Netz von Kooperationsabkommen mit anderen Weltregionen zu ergänzen.“ Agnieszka Brugger „Die Putins dieser Welt beeindrucken wir nur mit wirtschaftlicher Stärke.“ Bijan Djir-Sarai ist eine Kooperationsveranstaltung des dbb beamtenbund und tarifunion mit der Europa-Union Deutschland, dem Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement und der Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland. Seit 2006 finden die Abende regelmäßig im dbb forum berlin statt. Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Medien und Verbänden nehmen teil und diskutieren über Themen mit Europabezug aus den unterschiedlichsten Politikbereichen und knüpfen im Umfeld der Veranstaltungen neue Kontakte. Der Europäische Abend 10 AKTUELL dbb magazin | Dezember 2024

INTERVIEW Kai Wegner, Regierender Bürgermeister von Berlin Unser Ziel ist ein Miteinander auf Augenhöhe Herr Wegner, rund 40 Millionen Menschen engagieren sich in Deutschland ehrenamtlich und leisten pro Jahr knapp 4,8 Milliarden Stunden Arbeit am Gemeinwohl. Besonders in Brennpunktbereichen wie der Jugendhilfe, der aufsuchenden Sozialarbeit oder der Obdachlosenhilfe geht ohne Ehrenamt nichts mehr. Vernachlässigt der Staat Kernaufgaben zulasten der Freiwilligen? Menschen, die sich freiwillig engagieren, verdienen unsere größte Anerkennung. Ob in der Jugendhilfe, der Sozialarbeit oder bei der freiwilligen Feuerwehr – ihr Einsatz ist eine unverzichtbare Stütze für unsere Gesellschaft. Gleichzeitig bleibt es wichtig, dass der Staat in zentralen Bereichen wie sozialer Unterstützung und dem Schutz von Leben und Gesundheit zuverlässig und handlungsfähig bleibt. Mir ist es wichtig, das freiwillige Engagement zu fördern und die Rahmenbedingungen für Ehrenamtliche weiter zu verbessern. Dazu gehören die gezielte Unterstützung durch Fortbildungen, finanzielle Förderung und eine deutliche öffentliche Wertschätzung ihres Beitrags. Professionelles Freiwilligenmanagement kann dabei helfen, den Einsatz der Helfer noch effektiver zu gestalten. Unser Ziel ist ein Miteinander auf Augenhöhe: Staatliche Aufgaben und freiwilliges Engagement müssen sich ergänzen und gemeinsam das Fundament für eine starke Gemeinschaft bilden. Sorgearbeit ist in Deutschland leider immer noch vorwiegend Frauensache. Sie tragen die Doppelbelastung aus Erwerbstätigkeit und Sorgearbeit, was sich auch auf den Frauenanteil beim Ehrenamt auswirkt, der bei nur rund 42 Prozent liegt. Was muss besser werden, damit mehr Frauen ehrenamtlich tätig werden können? Frauen engagieren sich inzwischen fast genauso häufig ehrenamtlich wie Männer, doch sie tragen oft eine doppelte oder sogar drei- © Yves Sucksdorff 12 FOKUS dbb magazin | Dezember 2024

fache Belastung: Job, Familie und manchmal auch die Pflege von Angehörigen. Das erschwert es vielen Frauen, sich zusätzlich zu engagieren. Deshalb müssen wir Ehrenamt und Alltag grundsätzlich besser vereinbar machen – mit flexiblen Arbeitszeiten, guten Betreuungsangeboten und Ehrenämtern, die sich leichter in den Alltag integrieren lassen. Da sind übrigens auch die Organisationen gefragt. Es geht aber grundsätzlich darum, mehr Freiräume für Menschen zu schaffen, die sich engagieren wollen, und den Stress des Alltags zu reduzieren. Denn Engagement soll Freude machen, neue Erfahrungen bringen und vor allem zeigen: Mein Einsatz macht einen Unterschied. Die CDU/CSU-Fraktion hat im Februar einen Antrag in den Bundestag eingebracht, der unter anderem eine wöchentliche Arbeitszeit von mehr als 48 Stunden ins Spiel bringt. Wie lässt sich das mit ehrenamtlicher Tätigkeit vereinbaren? Viele Menschen in Deutschland wünschen sich flexiblere Arbeitszeiten, um den Job mit Familie und auch Ehrenamt besser in Einklang bringen zu können. Deshalb brauchen wir ein neues Arbeitszeitgesetz, das dafür mehr Spielraum bietet. So könnten Beschäftigte in der einen Woche mehr, in der anderen weniger arbeiten. Aber natürlich soll niemand gezwungen werden, 48 oder mehr Stunden pro Woche zu arbeiten. Es geht darum, dass künftig Menschen mehr arbeiten dürfen, wenn sie das selbst wollen. Das Land Berlin muss angesichts großer Löcher im Haushalt massiv sparen. Wird sich das auch auf Bereiche auswirken, in denen ehrenamtliche Projekte derzeit noch finanziell unterstützt werden? Nachdem in den vergangenen Jahren viel zu viel Geld ausgegeben wurde, mussten wir jetzt die Ausgaben des Landes auf ein normales Maß zurückführen. Das war für uns keine leichte Aufgabe. Der Konsolidierungsbedarf in Höhe von drei Milliarden Euro ist immens. Trotzdem haben wir die Funktionsfähigkeit Berlins sichergestellt und das Land Berlin zukunftsfest ausgerichtet. Vergangene Senate haben beim Sparen zuerst die Mitarbeiter im öffentlichen Dienst in den Blick genommen. Das gibt es mit mir nicht! Die Einschnitte, die wir beschlossen haben, sind zweifelsohne schmerzhaft. Niemand in der Koalition aus CDU und SPD und im Senat hat sich diese Entscheidungen leicht gemacht. Das ist mir wichtig: Wir haben Prioritäten bei der Sicherheit und der Bildung gesetzt und wir sichern die soziale Stadt. Die entscheidenden Unterstützungen und Projekte, die den Menschen in unserer Stadt zugutekommen – besonders diejenigen, die auf staatliche Hilfe angewiesen sind oder anderweitig Unterstützung benötigen –, werden weiterhin finanziert. Ehrenamtliche Projekte leisten einen wichtigen Beitrag zur Gesellschaft und sie haben für uns weiterhin einen hohen Stellenwert. Wir tun alles dafür, ihre Finanzierung im Rahmen des Möglichen auch weiter zu sichern. Wie anderswo auch sucht die Berliner Feuerwehr händeringend nach Nachwuchs. Gibt es Initiativen, die erfahrenen ehrenamtlichen Einsatzkräfte auch in die Berufsfeuerwehr einzustellen und dort zu halten? Wir wollen erfahrenen Mitgliedern der freiwilligen Feuerwehr den Weg in die Berufsfeuerwehr erleichtern. Dafür planen wir, die bisherigen Erfahrungen und Einsätze stärker anzuerkennen, etwa durch eine vereinfachte Einstellung und die Anrechnung von Teilen der Ausbildung. Wir wollen den Übergang so gestalten, dass die wertvolle Arbeit der Ehrenamtlichen auch in der Berufsfeuerwehr genutzt und geschätzt wird. Damit machen wir die Feuerwehr als Arbeitgeber attraktiver und schaffen neue Perspektiven für engagierte freiwillige Einsatzkräfte. Unter anderem wurde im Koalitionsvertrag vereinbart, die Vergütung der Berliner Beschäftigten schrittweise an das Bundesniveau anzupassen, was die Attraktivität des Landesdienstes nicht zuletzt für Nachwuchskräfte steigern würde. Welche Auswirkungen wird die Haushaltsproblematik darauf und auf den öffentlichen Dienst insgesamt haben? Trotz der notwendigen Einsparungen ist es uns wichtig, dass die Angleichung auf das Bundesgrundniveau schrittweise fortgeführt wird. Das bedeutet, dass die Angleichung in den Jahren 2025 und 2026 jeweils durch jährliche Anpassungen um 0,4 Prozent erfolgen wird. Anschließend werden wir uns den dann noch bestehenden Abstand zum Bundesgrundniveau genau anschauen und die weiteren Anpassungsschritte festlegen. Das zeigt, dass wir auch in finanziell herausfordernden Zeiten unsere Verpflichtung gegenüber den Beschäftigten im öffentlichen Dienst ernst nehmen. Es bleibt unser Ziel, Berlin als Arbeitgeber attraktiver zu machen und vor allem für Nachwuchskräfte konkurrenzfähig zu bleiben. Ich bin auch überzeugt, dass dieser Weg den öffentlichen Dienst stärkt und langfristig zukunftssicher macht. Als Sozialpartner leben die Gewerkschaften vom ehrenamtlichen Engagement ihrer Mitglieder, was besonders während der Tarifrunden sichtbar wird. Deshalb wird immer wieder über Gewerkschaftsboni als Teil von Tarifergebnissen diskutiert. Vergleichbares gibt es in der Wirtschaft seit Langem. Wie steht das Land Berlin dazu? Immerhin steht 2025 eine Tarifrunde für die Länder an … Die Tarifverhandlungen werden von der Tarifgemeinschaft der Länder geführt, der auch Berlin angehört. Ob Gewerkschaftsboni ein Thema werden, wird frühestens Ende 2025 während der Vorbereitung der nächsten Lohnrunde entschieden. Berlin wird sich aktiv an den kommenden Gesprächen beteiligen und dabei immer die Interessen seiner Beschäftigten im Blick haben. _ Vergangene Senate haben beim Sparen zuerst die Mitarbeiter im öffentlichen Dienst in den Blick genommen. Das gibt es mit mir nicht! Viele Menschen in Deutschland wünschen sich flexiblere Arbeitszeiten. Deshalb brauchen wir ein neues Arbeitszeitgesetz, das dafür mehr Spielraum bietet. FOKUS 13 dbb magazin | Dezember 2024

DOSSIER EHRENAMT Freiwillige Wenn Bürger Staat machen Das Ehrenamt boomt: Millionen Menschen in Deutschland engagieren sich für ihre Bürgerschaft, Tendenz steigend. Freiwillige übernehmen dabei zunehmend auch Aufgaben der Daseinsfürsorge, die eigentlich dem Staat zugerechnet werden. Wo verlaufen da die Grenzen? Wie viel Staat muss sein – und was ist erforderlich, damit Ehrenamt und staatliche Verwaltung tatsächlich sinnvoll kooperieren können? Frederike Stiewe aus Farmsen ist wie ihre Mutter Rettungsschwimmerin bei der DLRG und verbringt ihren Jahresurlaub regelmäßig bei der Strandwacht an der Lübecker Bucht – ehrenamtlich. Dennis Köhler koordiniert die Ortsgruppe des THW im niedersächsischen Verden und ist auch über Weihnachten und Neujahr im Einsatz, wenn wie beim letzten Jahreswechsel die Aller den ganzen Landkreis zu überfluten droht – unentgeltlich. Tafeln in ganz Deutschland greifen Bedürftigen mit Lebensmitteln unter die Arme, die sie bei Discountern und Lebensmittelgeschäften aufspüren, einsammeln, prüfen und dann verteilen – freiwillig. Ehrenamtliche Vormünder entlasten Amtsvormünder, die bei der Betreuung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge nicht mehr nachkommen. Lesepatinnen und -paten unterstützen Erziehungs- und Lehrkräfte in Kindergärten und Schulen dabei, die Lese- und Lernkompetenz von Kindern und Jugendlichen zu verbessern. In den rund 86 000 Sportvereinen kümmern sich Ehrenamtliche um die Pflege und den Bau von Sportstätten, um Training, Breitensport und Talentförderung. In Pflege- und Senioreneinrichtungen übernehmen Freiwillige Besuchs- und Freizeitangebote, im Hospizdienst begleiten sie Sterbende auf ihrem letzten Weg. Und das ist nur ein kleiner Ausschnitt. Bürgerschaftliches Engagement ist innovativ „Ehrenamt ist eine zentrale Säule unserer Demokratie. Es ist unverzichtbar“, konstatiert denn auch Susanne Aumann, Vorsitzende der dbb jugend nrw. Der Jugendverband hat sich 2023 das Ehrenamt zum Jahresthema gesetzt. „Ohne all die ehrenamtlich Tätigen bräche unsere Gesellschaft wie ein Kartenhaus zusammen.“ Ob im sozialen Bereich, im Naturschutz, in der Kultur, in Flüchtlingshilfe und Integration – Ehrenamtliche packen an: findig und entschlossen. Damit treiben sie die gesellschaftliche Entwicklung voran, wie Thomas Röbke, der von 2003 bis 2023 das Landesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement Bayern leitete, betont. Seit der Herausbildung bürgerschaftlichen Engagements Ende des 18. Jahrhunderts wirkt es unermüdlich als „Innovationsagentur“: indem es gesellschaftliche Lücken aufspürt, überkommene Strukturen und Ordnungen lockert oder gar zum Einsturz bringt. Denn hinter diesem Engagement stehen oft grundsätzliche Fragen danach, wie wir leben wollen – und was wir dafür tun können. Bürgerschaftliche Initiativen haben dafür gesorgt, dass Themen wie neue Armut, der Umgang mit dem Sterben, Naturschutz, Denkmalschutz, Energiewende, Gleichberechtigung, die politischen Rechte von Migranten, Einsamkeit und vieles mehr überhaupt erst gesellschaftlich breit debattiert werden. Das ist ein nicht zu unterschätzender Mehrwert, der bei der Betrachtung des Ehrenamts häufig zu kurz kommt. Bürgerschaftliches Engagement erwies und erweist sich überdies als wichtiges Lernfeld für Demokratie. Hier werden die Übernahme von Verantwortung und Toleranz eingeübt, und auch die Erfahrung der Selbstwirksamkeit hat politische Relevanz. Wer ErfülModel Foto: Arne Trautmann/Colourbox.de 14 FOKUS dbb magazin | Dezember 2024

lung im Ehrenamt findet, Sinnstiftung, Zufriedenheit, ja sogar Lebensglück – Aspekte, die von Ehrenamtlichen durchgängig als Motivation für ihren Dienst an der Gemeinschaft genannt werden –, ist weniger anfällig für Radikalisierung. Wer sorgt wofür? Sinnstiftung und Zufriedenheit kommen allerdings schnell an ihr Ende, wenn Freiwillige den Eindruck gewinnen, als Lückenbüßer einspringen zu müssen, weil der Staat sich aus seiner Verantwortung für die Daseinsvorsorge zurückzieht. Dass der Staat nicht für alle damit verbundenen Aufgaben Verantwortung trägt, hat Tradition und ist auch dezidiert so geregelt: Die DLRG sorgt mit ihren Ehrenamtlichen für die Rettung von Menschenleben an deutschen Küsten- und Binnengewässern. Das THW ist im In- und Ausland mit seinen Freiwilligen bei Katastrophen zur Stelle. Brandschutz, Rettung und Löschung übernimmt in Stadt und Land weit überwiegend die freiwillige Feuerwehr. Johanniter, Malteser, Arbeiter-Samariter-Bund und das Deutsche Rote Kreuz leisten und organisieren medizinische und humanitäre Hilfe und sind in der Wohlfahrtspflege aktiv. Dass der unentgeltliche Einsatz für das eigene Gemeinwesen zum Staatsbürgerdasein dazugehört, ist nicht nur für die Freiwilligen in diesen Organisationen selbstverständlich. 19 Milliarden Euro jährlich werden laut der dbb jugend nrw allein in diesem Bundesland dadurch eingespart, dass sich rund die Hälfte der Bevölkerung bürgerschaftlich engagiert. Aber es gerät etwas ins Rutschen, wenn Menschen auf dem Land mit Bürgerbussen und ehrenamtlichen Fahrdiensten für Senioren ausgleichen sollen, dass keine ausreichende ÖPNVAnbindung existiert; wenn nach Angaben des Sozialverbands VdK die größte Ehrenamtlichengruppe die der pflegenden Angehörigen ist, die sich – nicht nur, aber auch – für die Versorgung ihrer Nächsten zu Hause entscheiden, weil es an gut ausgestatteten und bezahlbaren Pflegeeinrichtungen mangelt, denen sie ihre Liebsten guten Gewissens anvertrauen könnten. Oder wenn etwa die Tafeln immer wieder und immer lauter warnen, dass sie in Zeiten wachsender Armut des Andrangs nicht mehr Herr werden. Eines Andrangs, der auch dadurch zunimmt, dass der Staat – unter Hinweis auf die Existenz der Tafeln – seine Unterstützungsleistungen so knapp bemisst, dass Menschen am Monatsende gar nichts anderes übrig bleibt, als sich über die Tafeln zu versorgen. Ohne das Ehrenamt geht es nicht. Aber ein Ersatz für die staatliche Daseinsvorsorge kann es nicht sein. Die komplexe Lage strukturschwacher Kommunen Schrumpfende, strukturschwache Kommunen können auf diesen Ersatz allerdings kaum mehr verzichten. Angesichts angespannter Haushalte und Personalmangels sind sie auf engagierte Freiwillige angewiesen, um Leistungen abfedern zu können, die nach und nach weggebrochen sind oder wegzubrechen drohen. Das stellt sie vor vielfältige Herausforderungen. Gerade in durch Abwanderung oder demografischen Wandel stark betroffenen Regionen fehlt es häufig an der notwendigen „kritischen Masse“, an Personen, die für Kooperationen infrage kämen. Wer dazu bereit ist, sieht sich wiederum mit Hürden konfrontiert, deren Überwindung (zu) viel Zeit und Ressourcen kostet: Bürokratie, ein formales Antragswesen, abgefasst in schwer verständlichem Fach- und Amtsdeutsch, oder ein Förderwesen, das auf Projekte zielt, die sich aus voneinander losgelösten Modellprogrammen und Fördertöpfen speisen und Initiativen dazu zwingen, sich alle drei bis fünf Jahre neu zu erfinden. Tradierte Top-downMechanismen, die dazu führen, dass Freiwillige sich eher als Handlanger denn als Kooperationspartner fühlen, helfen auch nicht. Gleichzeitig sieht sich die Kommune gehalten, den Erfordernissen staatlichen Verwaltungshandelns gerecht zu werden. Eine komplizierte Gemengelage, die allen Beteiligten viel abverlangt. Ohne Anpassungen wird es nicht gehen. Als eine Möglichkeit, Funktionen kommunaler Daseinsvorsorge aufrechtzuerhalten, ohne sie selbst betreiben zu müssen, erweisen sich Bürgergenossenschaften. Ob Dorfläden, alternative Wohn- und Mobilitätsformen, Dienstleistungen der Nachbarschafts- und Seniorenhilfe, Schwimmbäder, Energie- und Wasserversorgung – Bürgergenossenschaften übernehmen, wo die Kommune es finanziell oder organisatorisch nicht mehr leisten kann. Das Modell eignet sich nicht für jede Aufgabe, es erfordert gute Beratung, breite (kommunale) Unterstützung und viel Engagement. Wo es gelingt, erlaubt es aber der Kommune, Leistungen zu privatisieren, die Bürgerschaft und damit die Nutzer einzubinden und gleichzeitig den eigenen Einfluss zu wahren. Noch ist © THW/Susanne Hörle © Denis Foemer (DLRG) FOKUS 15 dbb magazin | Dezember 2024

dazu viel Aufklärungsarbeit nötig: sowohl in den Kommunen, die Genossenschaften häufig noch nicht in ausreichendem Maße als Partner bei der Bewältigung der Daseinsvorsorge begreifen, als auch in den ländlichen Gemeinschaften. Wie es funktionieren kann, zeigt sich in Thüringen. Dort haben sich vornehmlich Energiegenossenschaften gegründet, was hauptsächlich daran liegt, dass eine vom Land ins Leben gerufene Energieagentur den Gründern unter die Arme greift. Kooperation statt Überforderung Unterstützung, Beratung, eine helfende statt fordernde oder gar übergriffige Verwaltung, das ist es, was sich viele Ehrenamtliche wünschen. Wo staatliches Handeln mit seinen starren Vorgaben auf oft auch unkonventionelles Engagement trifft, muss es zu Konflikten kommen. Wenn aber beispielsweise selbstorganisierten Kitas auf dem Land dieselben Standards auferlegt werden wie staatlichen Einrichtungen, dann wird ihnen etwas abverlangt, was sie nicht leisten können. Was als Professionalisierung daherkommt, entzieht bestehenden Initiativen teilweise die Existenzgrundlage. Der Mehraufwand an fachlicher Ausbildung, die Bewältigung komplexer Rechtsvorschriften, die Erfüllung immer neuer Rechenschaftspflichten und Dokumentationserfordernisse, die bei Nichteinhaltung gefährliche Haftungsprobleme nach sich ziehen können, ersticken so im Keim, was doch eigentlich gewünscht ist: dass sich immer mehr Menschen aktiv für Zusammenhalt und die Gestaltung ihres Gemeinwesens einsetzen. „Zufrieden sind die befragten Bürger*innen ausschließlich mit der Unterstützung durch den Verein oder die Institution, in der sie sich engagieren“, ergab 2021 eine Studie zu bürgerschaftlichem Engagement im Ruhrgebiet. Das ist zu wenig. Was braucht es stattdessen? Kurz gesagt: Abbau von bürokratischen Hindernissen, Ansprechpartner in Politik und Verwaltung, partizipative Einbeziehung, Kooperation ohne Vereinnahmung. Gerade kleine Kommunen, in denen die Herausforderungen zur Sicherstellung der Daseinsvorsorge am größten sind, werden auf diese Wünsche eingehen müssen. Dazu sollten nicht nur überkommene Aufteilungen von Gestaltungsmacht hinterfragt, Handlungsspielräume neu ausgehandelt und das Verhältnis zwischen Unterstützung und Lenkung auf den Prüfstand gestellt werden. Die kommunale Ebene braucht auch eine finanzielle Ausstattung, die es ihr erlaubt, ausreichendes und entsprechend qualifiziertes Personal einzustellen, das sich der Zusammenarbeit mit den Freiwilligen widmet und diese koordiniert. Dafür sind Strukturfördermittel nach Bedarf und nicht nach Einwohnerzahl erforderlich. Die Zivilgesellschaft wiederum benötigt eine Umorientierung der staatlichen Förderstrategien: weg von der Initiierung von Projekten (deren Vorgaben ehrenamtliche Initiativen tendenziell überfordern), hin zu Prozessen, die darauf ausgelegt sind, selbstverständlich zu werden. Das entlastet Verwaltung und bürgerschaftliches Engagement. Die Bundesengagementstrategie Die Rahmenbedingungen für das bürgerschaftliche Engagement zu verbessern und die Zivilgesellschaft umfassender zu unterstützen, ist auch Ziel der Bundesengagementstrategie, die derzeit im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vorbereitet wird. In einem einjährigen Beteiligungsprozess hatte die Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt dafür Vorschläge aus der Zivilgesellschaft gesammelt. Das Spannungsfeld zwischen Ehrenamt und staatlicher Daseinsvorsorge wurde nicht dezidiert abgefragt, das Bündnis für Gemeinnützigkeit äußerte in dem Verfahren jedoch unter anderem den Wunsch, die Engagementförderung selbst als Pflichtaufgabe der kommunalen Daseinsvorsorge festzuschreiben. Eine Bundesfinanzierung dazu ließe sich in einem „Engagementfördergesetz“ regeln. Auf ein solches Gesetz, in dem außerdem „staatlich geförderte wie auch gesetzlich verbriefte Regelaufgaben“ niedergelegt werden könnten, hofft ebenfalls Ansgar Klein, der Geschäftsführer des Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement. Ob diese Vorschläge Eingang in die Engagementstrategie fin- den, lässt sich noch nicht sagen. Vorgestellt werden soll sie zum Engagementtag am 4. Dezember – sofern die notwendige Abstimmung mit anderen Ressorts sowie der für das vierte Quartal vorgesehene Kabinettsbeschluss nicht durch das Ampel-Aus gestoppt wurden. So oder so: Die Debatte wird weitergehen. Denn bürgerschaftliches Engagement treibt gesellschaftliche Entwicklung voran. Andrea Böltken Model Foto: Colourbox.de Model Foto: Dmitrii Shironosov/Colourbox.de 16 FOKUS dbb magazin | Dezember 2024

Vereinswesen Vom Lesezirkel zur Institution Die Vereinsfreudigkeit der Deutschen ist sprichwörtlich und hat tiefe historische, kulturelle und soziale Wurzeln, die eng mit der Entwicklung von Zivilgesellschaft und Demokratie verknüpft sind. Treffen sich drei Deutsche, gründen sie einen Verein“, heißt es gern in Anspielung auf die Vereinsvielfalt in Deutschland, die historisch tief verwurzelt ist. Bereits im Mittelalter entstanden Zusammenschlüsse, die als erste Keimzelle für ein Vereinsleben gelten können. Zünfte und Bruderschaften waren als Vorläufer moderner Vereine frühe Vertretungen für berufliche, religiöse oder soziale Interessen. Sie boten ihren Mitgliedern Schutz und soziale Sicherheit, waren aber streng hierarchisch organisiert und an strikte Regeln gebunden. In diesen frühen Zusammenschlüssen wurde die Grundlage für den Gedanken gelegt, dass Menschen durch gegenseitige Unterstützung mehr erreichen können. Mit der Aufklärung kamen im 18. Jahrhundert neue Formen von Bürgerzusammenschlüssen auf: Lesegesellschaften und Diskussionszirkel boten der wachsenden bürgerlichen Schicht eine Plattform für den politisch-kulturellen Austausch, der nicht zuletzt durch den Buchdruck und das Aufkommen neuer Ideale befördert wurde und das Selbstbewusstsein der Bürgerschaft stärkte – ein Trend, der sich im 19. Jahrhundert fortsetzte. In einer Zeit politischer Repression und staatlicher Kontrolle fungierten Vereine als Rückzugsort für politische und soziale Bewegungen, besonders während der Deutschen Revolution von 1848. Sie boten Raum für demokratische Debatten, allerdings oft im Verborgenen oder unter staatlicher Beobachtung. Auch die Vereinskultur selbst demokratisierte sich in dieser Zeit: Wahlen, Satzungen und festgelegte Mitgliedsrechte wurden eingeführt und waren Ausdruck des wachsenden Strebens nach Selbstbestimmung. Vereine entstanden in allen Lebensbereichen – Gesang, Sport, Handwerk oder Bildung. Mit der Reichsgründung 1871 erlebte das Vereinswesen weiteren Aufschwung. In dieser Phase wurde das deutsche Vereinsrecht kodifiziert, und die Vereine erfuhren staatliche Anerkennung. Die Gründung von Turn- und Sportvereinen, Gesangsvereinen, Gartenvereinen sowie Lese- und Bildungsvereinen spiegelte den Wunsch nach körperlicher und geistiger Ertüchtigung im Dienste der Gesellschaft wider. Vereine stärkten das Gemeinschaftsgefühl und förderten die nationale Identität. Für viele Bürger wurden Vereine zum sozialen Zentrum des Alltags. Nach dem Ersten Weltkrieg in der Weimarer Republik spielten Vereine eine bedeutende Rolle in einer nach Stabilität und Gemeinschaft suchenden Gesellschaft. Allerdings wurde das Vereinswesen zunehmend von rechten und linken Bewegungen politisiert und instrumentalisiert. In diese Zeit fiel auch die Gründung des Deutschen Beamtenbundes als berufliche Interessenvertretung: Am 4. Dezember 1918, unmittelbar nach dem „Aufruf des Rates der Volksbeauftragten an das deutsche Volk“ vom 12. November 1918, der erstmalig auch den Beamten das uneingeschränkte Koalitionsrecht zugestand, wurde er in Berlin als „Zusammenschluss der deutschen Beamten- und Lehrervereinigungen auf gewerkschaftlicher Grundlage“ gegründet. Während der nationalsozialistischen Diktatur wurden viele Vereine gleichgeschaltet, verboten oder in die NS-Strukturen integriert, um eine staatlich kontrollierte Volksgemeinschaft zu schaffen. Erst nach 1945 konnte sich das deutsche Vereinswesen wieder frei entfalten, in der jungen Bundesrepublik erlebte das Vereinswesen einen erneuten Aufschwung. Vereine wurden zunehmend zu einer Institution des demokratischen und sozialen Engagements – sei es in Sport, Kultur, Umwelt oder Politik. Das Vereinswesen, so wie es heute besteht, spiegelt die Vielfalt der Gesellschaft wider und ist eine zentrale Säule des bürgerschaftlichen Engagements. Fast jeder zweite Deutsche ist Mitglied in einem Verein, und das Vereinsleben gilt als einer der wichtigsten sozialen Ankerpunkte der Gesellschaft. Vereine schaffen nicht nur Zugehörigkeit und Gemeinschaft, sondern fördern auch den Dialog und das Verständnis zwischen Menschen unterschiedlicher Hintergründe. Sie sind damit nicht nur Orte der Freizeitgestaltung, sondern wichtige Akteure im gesellschaftlichen Leben und in sozialen Projekten. Sie unterstützen die Integration, fördern den interkulturellen Dialog, stärken den Zusammenhalt in einer zunehmend pluralistischen Gesellschaft oder kämpfen wie der dbb als Interessenvertretung für die Rechte ihrer Mitglieder. Der dbb zählt als „Verein von Vereinen“ mit insgesamt mehr als 1,3 Millionen Mitgliedern zu den großen Deutschlands. Das Vereinsregister zählt übrigens mehr als 600 000 eingetragene Vereine. Die größte Gruppe mit rund 90 000 stellen die Sportvereine, in denen rund 27 Millionen Menschen organisiert sind. br Gremienarbeit im Großformat: Als Verein von Vereinen versammelt der dbb alle fünf Jahre rund 800 Delegierte aus Ehren- und Hauptamt auf dem Gewerkschaftstag. © Marco Urban FOKUS 17 dbb magazin | Dezember 2024

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