DOSSIER EHRENAMT Freiwillige Wenn Bürger Staat machen Das Ehrenamt boomt: Millionen Menschen in Deutschland engagieren sich für ihre Bürgerschaft, Tendenz steigend. Freiwillige übernehmen dabei zunehmend auch Aufgaben der Daseinsfürsorge, die eigentlich dem Staat zugerechnet werden. Wo verlaufen da die Grenzen? Wie viel Staat muss sein – und was ist erforderlich, damit Ehrenamt und staatliche Verwaltung tatsächlich sinnvoll kooperieren können? Frederike Stiewe aus Farmsen ist wie ihre Mutter Rettungsschwimmerin bei der DLRG und verbringt ihren Jahresurlaub regelmäßig bei der Strandwacht an der Lübecker Bucht – ehrenamtlich. Dennis Köhler koordiniert die Ortsgruppe des THW im niedersächsischen Verden und ist auch über Weihnachten und Neujahr im Einsatz, wenn wie beim letzten Jahreswechsel die Aller den ganzen Landkreis zu überfluten droht – unentgeltlich. Tafeln in ganz Deutschland greifen Bedürftigen mit Lebensmitteln unter die Arme, die sie bei Discountern und Lebensmittelgeschäften aufspüren, einsammeln, prüfen und dann verteilen – freiwillig. Ehrenamtliche Vormünder entlasten Amtsvormünder, die bei der Betreuung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge nicht mehr nachkommen. Lesepatinnen und -paten unterstützen Erziehungs- und Lehrkräfte in Kindergärten und Schulen dabei, die Lese- und Lernkompetenz von Kindern und Jugendlichen zu verbessern. In den rund 86 000 Sportvereinen kümmern sich Ehrenamtliche um die Pflege und den Bau von Sportstätten, um Training, Breitensport und Talentförderung. In Pflege- und Senioreneinrichtungen übernehmen Freiwillige Besuchs- und Freizeitangebote, im Hospizdienst begleiten sie Sterbende auf ihrem letzten Weg. Und das ist nur ein kleiner Ausschnitt. Bürgerschaftliches Engagement ist innovativ „Ehrenamt ist eine zentrale Säule unserer Demokratie. Es ist unverzichtbar“, konstatiert denn auch Susanne Aumann, Vorsitzende der dbb jugend nrw. Der Jugendverband hat sich 2023 das Ehrenamt zum Jahresthema gesetzt. „Ohne all die ehrenamtlich Tätigen bräche unsere Gesellschaft wie ein Kartenhaus zusammen.“ Ob im sozialen Bereich, im Naturschutz, in der Kultur, in Flüchtlingshilfe und Integration – Ehrenamtliche packen an: findig und entschlossen. Damit treiben sie die gesellschaftliche Entwicklung voran, wie Thomas Röbke, der von 2003 bis 2023 das Landesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement Bayern leitete, betont. Seit der Herausbildung bürgerschaftlichen Engagements Ende des 18. Jahrhunderts wirkt es unermüdlich als „Innovationsagentur“: indem es gesellschaftliche Lücken aufspürt, überkommene Strukturen und Ordnungen lockert oder gar zum Einsturz bringt. Denn hinter diesem Engagement stehen oft grundsätzliche Fragen danach, wie wir leben wollen – und was wir dafür tun können. Bürgerschaftliche Initiativen haben dafür gesorgt, dass Themen wie neue Armut, der Umgang mit dem Sterben, Naturschutz, Denkmalschutz, Energiewende, Gleichberechtigung, die politischen Rechte von Migranten, Einsamkeit und vieles mehr überhaupt erst gesellschaftlich breit debattiert werden. Das ist ein nicht zu unterschätzender Mehrwert, der bei der Betrachtung des Ehrenamts häufig zu kurz kommt. Bürgerschaftliches Engagement erwies und erweist sich überdies als wichtiges Lernfeld für Demokratie. Hier werden die Übernahme von Verantwortung und Toleranz eingeübt, und auch die Erfahrung der Selbstwirksamkeit hat politische Relevanz. Wer ErfülModel Foto: Arne Trautmann/Colourbox.de 14 FOKUS dbb magazin | Dezember 2024
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