dbb magazin 5/2019 - page 6

fünf fragen an
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. die Führungsspitze der europäischen dbb Dachgewerkschaft CESI
Die Zukunft der EU aus
gewerkschaftlicher Sicht mitgestalten
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Bis zur Europawahl sind es
weniger als vier Wochen.
Einerseits sagt man, dass so
kurz vor Wahlen die Regie-
rungsarbeit und politische
Arbeit weitgehend ruhen.
Andererseits gibt es in Europa
viele offene Baustellen, allen
voran natürlich den Brexit. Wie
ist denn die aktuelle Stimmung
in Brüssel und Straßburg?
Romain Wolff:
Mit dem Brexit-
Aufschub haben wir jetzt Zeit
gewonnen, sie muss aber ge­
nutzt werden. Die EU darf kei­
nen Schaden erleiden, sich nicht
in Geiselhaft nehmen lassen,
vor allem nicht ihre Prinzipien
preisgeben. Und es wird jetzt
wirklich langsam Zeit, zur Ta­
gesordnung überzugehen, die
vielen Herausforderungen anzu­
packen und unsere EU-Zukunft
zu gestalten. Allgemein wird zu
wenig über das Positive berich­
tet, das die EU bewirkt. Als pro-
europäischer Gewerkschafter
kommt es mir darauf an, über
das Erreichte zu reden. Unter
dem Strich muss klar sein: In Eu­
ropa lebt es sich mit und durch
die EU besser als ohne. Und ich
stelle fest, dass in Brüssel ein
neues Verständnis erwächst,
dass zu Europa nicht nur die
Marktfreiheiten, sondern auch
soziale Sicherheit und funktio­
nierende öffentliche Dienste
gehören. Das gibt Hoffnung.
2
Sie vertreten die Interessen
der im öffentlichen Dienst
beschäftigten Menschen in Eu-
ropa. Was konnten Sie in der
auslaufenden Legislaturperio-
de erreichen …
Klaus Heeger:
Ein Erfolg war die
Unterzeichnung eines von uns
mitverhandelten neuen EU-So­
zialpartnerabkommens zu In­
formations- und Konsultations­
rechten für Beschäftigte in
Zentralverwaltungen. Diese
sind bislang von EU-Vorgaben
ausgenommen. Des Weiteren
haben wir Gehör gefunden,
Investitionslücken in Bildung,
Gesundheit und Betreuung zu
schließen. Die europäischen
Institutionen erkennen zuneh­
mend an, dass neue Aufgaben
für den Staat auch mit entspre­
chenden Investitionen in den
öffentlichen Dienst und sein
Personal einhergehen müssen.
Das schreiben wir uns als CESI
auch auf die Fahnen. Hier hat
ein Umdenken stattgefunden.
So hat auch durch unser Zutun
die Kommission zum Beispiel
öffentlich erklärt, dass der öf­
fentliche Dienst von den TiSA-
Verhandlungen (
multilaterales
Abkommen über den Handel
mit Dienstleistungen, Anm. d.
Redaktion
) ausgenommen wird.
3
… und welche Themen
stehen in den kommenden
fünf Jahren auf Ihrer Agenda?
Romain Wolff:
2017 wurde die
Europäische Säule sozialer Rech­
te proklamiert, die 20 Prinzipien
für ein soziales und faires Euro­
pa umreißt. Die Umsetzung die­
ser Prinzipien auf allen Ebenen
durch die EU-Institutionen, na­
tionale Regierungen, Sozialpart­
ner und Gewerkschaften muss
Priorität haben. Es kann nicht
sein, dass der Binnenmarkt zu
Sozialdumping führt. Hier be­
darf es gemeinsamer Verpflich­
tungen aller Akteure. Als CESI
verstehen wir uns dabei als
wichtiges Bindeglied zwischen
der europäischen Ebene und
den nationalen Bemühungen
unserer Mitglieder und deren
Regierungen.
4
In vielen EU-Ländern ge-
winnen Kräfte an Zustim-
mung, die eher im National-
staat als in einer vertieften
europäischen Zusammenar-
beit die Zukunft sehen. Wagen
Sie doch bitte eine Prognose:
Wohin geht die Reise für den
Dampfer „Europäische Union“?
Klaus Heeger:
Das kann nie­
mand sicher absehen. Was ich
aber bemerke: Seitdem sich die
Briten beim Brexit so verrannt
haben, hört man von nationa­
listischen Parteien in Europa in
Sachen EU-Austritt erstaunlich
wenig. Die polnischen und un­
garischen Regierungen wissen
sowieso, was ihre Länder an
den Strukturfonds der EU ha­
ben. Und wann haben Sie ei­
gentlich das letzte Mal von
Marine Le Pen oder Geert Wil­
ders gehört? Ich habe den Ein­
druck, dass das britische Bre­
xit-Dilemma uns allen wieder
vor Augen führt, was die EU
doch insgesamt bedeutet. Nun
geht es darum, die Richtung,
die sie einschlagen wird, aus
gewerkschaftlicher Sicht mit­
zugestalten.
5
Allerorts werden die Werbe-
trommeln für eine hohe Be-
teiligung an der Europawahl ge-
rührt. Aus Sicht unserer Vertreter
in Brüssel: Warum ist die Wahl
für dbb Mitglieder wichtig?
Romain Wolff:
Wer nicht wäh­
len geht, überlässt das Feld de­
nen, die gegen Europa sind.
Das will die CESI nicht, und das
kann kein dbb Mitglied wollen.
Die EU ist nicht perfekt, aber
nennen Sie mir ein politisches
System der Welt, das vollkom­
men ist. Wir müssen die EU ef­
fizienter, transparenter, einfa­
cher gestalten, nicht abschaffen.
Klaus Heeger:
Die Wahlen sol­
len die Inhalte zukünftiger EU-
Politik vorgeben. Daher ist es
wichtig, daran teilzunehmen.
Für uns ist die differenzierte
Auseinandersetzung entschei­
dend, und das kann manchmal
„mehr Europa“, durchaus aber
auch mal „weniger Europa“ be­
deuten. Versteifen wir uns auf
das pauschale Dogma „mehr
Europa“, bewirkt das nur eine
weitere Polarisierung zum
Nachteil der EU und einer
sachlichen Debatte.
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fünf fragen an ...
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CESI
Die Europäische Union der
Unabhängigen Gewerk­
schaften (Confédération
Européene des Syndicats
Indépendants, CESI) mit Sitz
in Brüssel setzt sich für Ge­
werkschaftspluralismus auf
europäischer Ebene ein und
repräsentiert etwa acht Mil­
lionen Arbeitnehmer.
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CESI-Präsident Romain Wolff .
<<
. Generalsekretär Klaus Heeger
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