dbb magazin 5/2019 - page 17

standpunkt
keit von Daseinsvorsorge und
öffentlichen Diensten, schluss­
endlich aber auch von sozialen
Sicherungssystemen, gleich ob
überwiegend beitrags- oder
komplett steuerbasiert. In der
Steuerpolitik wirksame Rege­
lungen auf EU-Ebene und darü­
ber hinaus zu finden, wäre viel
wichtiger als die Auseinander­
setzung um einzelne sozialpoli­
tische Maßnahmen, die schluss­
endlich ohnehin eher in den
Mitgliedstaaten entschieden
werden müssen.
Da ist nicht zuletzt die Frage
nach der Zukunft der europäi­
schen Unabhängigkeit. Kann
diese aufrechterhalten werden,
wenn immer mehr strategische
Infrastruktur nationalem und
europäischem Zugriff entzogen
wird? Die Privatisierung öffent­
licher Infrastruktur gilt schon
lange nicht mehr als Fort­
schrittsgarantie. Besonders kri­
tisch wird es aber, wenn sie an
Drittstaaten oder deren nur der
Form nach private Staatsunter­
nehmen verkauft wird. China
ist in Südosteuropa, auf dem
Westbalkan, jüngst auch er­
folgreich in Italien auf Ein­
kaufstour. Vermeintlich billige
Kredite führen geradewegs in
ökonomische und bald auch
politische Abhängigkeit. Peking
bekommt so de facto einen in­
formellen Sitz im Europäischen
Rat. Europa ringt mit China um
gleichberechtigten Marktzu­
gang, ist aber in der Situation
des Schwächeren. Das Reich
der Mitte hat zudem in wichti­
gen Zukunftstechnologien die
Marktführerschaft erlangt.
<<
Freiheit und
Wohlstand bewahren
Europa droht im von den USA
ausgelösten Handelsstreit
zwischen den beiden Welt­
mächten, der alten, zuneh­
mend isolationistischen und
protektionistischen amerika­
nischen und der neuen, wirt­
schaftlich und militärisch
weltweit ausgreifenden chine­
sischen, zerrieben zu werden.
Die europäischen Parteien­
familien müssten eigentlich
darüber streiten, wie Europa
angesichts dieser Machtver­
schiebungen seine Freiheit und
seinen Wohlstand bewahren
will. Aber die Europäer sind mit
sich selbst beschäftigt, unter
anderemmit teuren, ihr Ge­
wicht in der Welt weiter min­
dernden Scheidungen (Brexit)
und dadurch nicht leichter wer­
denden Verhandlungen über
die künftigen Finanzgrundla­
gen der Europäischen Union
(mehrjähriger Finanzrahmen).
Die Durchsetzung neuester
Digitalstandards und damit
die Sicherung von Innovations­
kraft und Wettbewerbsfähig­
keit behandeln die Europäer
nicht wirklich als gemeinsame
Aufgabe. Auch weitere strate­
gische Fragen wie die der Ener­
gieversorgung werden stark
durch die nationale Brille gese­
hen und von nationalen Allein­
gängen geprägt, die Debatten
über eine nachhaltige Energie­
wende mit bezahlbarer Energie
und sicherer Versorgung nur
nach nationalen Präferenzen
geführt, obwohl sie Europa als
Ganzes betreffen.
Dass das deutsche Festhalten
an der Gaspipeline Nord
Stream II auch grundlegende
sicherheitspolitische Fragen in
Bezug auf die Abhängigkeit
von Russland aufwirft, ist ein
weiteres existenzielles Thema,
das eine „europäische Regie­
rung“ eigentlich beschäftigen
müsste. Im Europawahlkampf
dürfte diese Frage, bei der es
immerhin um das Potenzial ei­
ner Spaltung Europas geht, je­
doch kaum eine Rolle spielen.
<<
Rüstungspolitik als
Elefant im Raum
Ein weiterer Elefant im Raum
wird die Frage der Rüstungspo­
litik sein. Grundsätzlich besteht
zwar große Einigkeit hinsicht­
lich der Notwendigkeit stärke­
rer europäischer Integration in
der Außen- und Sicherheitspo­
litik. Von europäischen Streit­
kräften ist vielfach die Rede.
Wird es aber konkret, ist es mit
der Einigkeit vorbei. Trotzdem
scheint sich kaum eine deut­
sche Partei zu trauen, eine Ver­
lagerung des Parlamentsvorbe­
halts für militärische Einsätze
auf das Europäische Parlament
zu fordern. Der Bundestag wird
seine strikte Kontrollfunktion
in militärischen Angelegenhei­
ten jedoch nicht behalten kön­
nen, wenn es jemals europäi­
sche Streitkräfte geben soll.
Ebenso verhält es sich mit der
Rüstungskontrolle. Gemeinsa­
me Beschaffung, gemeinsame
europäische Industrieprojekte
streben zwar viele an. Dass dies
aber eine gemeinsame europäi­
sche Rüstungskontrollpolitik
erforderlich und eine nationale
schwierig macht, wird ungern
eingeräumt.
Grundsätzlich fehlt es an jeder
ernsthaften Auseinanderset­
zung mit außen- und sicher­
heitspolitischen Fragen, die
über Sonntagsreden hinausrei­
chen. Dabei stellen sich sehr
konkrete Fragen: Kann der ame­
rikanische Schutzschirm erhal­
ten werden oder braucht es
eine eigenständige europäi­
sche, auch nukleare Abschre­
ckung? Wie kann gleichzeitig
ein neuer Rüstungswettlauf in
Europa vermieden werden? Wie
kann ein Status mit Russland
gefunden werden, der ihm sei­
ne Einkreisungsängste nimmt,
seinen Revisionismus beendet
und wirtschaftliche Perspekti­
ven in beiderseitigem Interesse
eröffnet, somit also eine neue
Partnerschaft ermöglicht? Was
in der Europadebatte vor der
Wahl vollkommen fehlt, ist zu­
dem eine ernsthafte Auseinan­
dersetzung mit dem südlichen
Nachbarn auf der anderen Seite
des Mittelmeeres. Es gibt we­
der eine Nahost- noch eine Afri­
ka-Strategie. Dabei wäre diese
mit Blick auf Migration, Märkte
der Zukunft, Zugang zu Res­
sourcen und nachhaltige Ent­
wicklung von grundlegender
Bedeutung, nicht nur für die
dortigen Partner, sondern auch
für Deutschland und Europa.
Es ist fraglich, ob Europa noch
viel Zeit bleibt, seine vielfälti­
gen Binnenprobleme zu lösen,
ehe es sich ernsthaft diesen
und weiteren wirklich wichti­
gen Fragen zuwendet. Hierüber
im Europawahlkampf zu strei­
ten, würde lohnen. Die Welt
wartet nicht.
Christian Moos
... die Europäer sind mit sich selbst beschäftigt,
unter anderem mit teuren, ihr Gewicht in der
Welt weiter mindernden Scheidungen (Brexit) ...
Die Durchsetzung neuester Digitalstandards und
damit die Sicherung von Innovationskraft und
Wettbewerbsfähigkeit behandeln die Europäer
nicht wirklich als gemeinsame Aufgabe.
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