standpunkt
keit von Daseinsvorsorge und
öffentlichen Diensten, schluss
endlich aber auch von sozialen
Sicherungssystemen, gleich ob
überwiegend beitrags- oder
komplett steuerbasiert. In der
Steuerpolitik wirksame Rege
lungen auf EU-Ebene und darü
ber hinaus zu finden, wäre viel
wichtiger als die Auseinander
setzung um einzelne sozialpoli
tische Maßnahmen, die schluss
endlich ohnehin eher in den
Mitgliedstaaten entschieden
werden müssen.
Da ist nicht zuletzt die Frage
nach der Zukunft der europäi
schen Unabhängigkeit. Kann
diese aufrechterhalten werden,
wenn immer mehr strategische
Infrastruktur nationalem und
europäischem Zugriff entzogen
wird? Die Privatisierung öffent
licher Infrastruktur gilt schon
lange nicht mehr als Fort
schrittsgarantie. Besonders kri
tisch wird es aber, wenn sie an
Drittstaaten oder deren nur der
Form nach private Staatsunter
nehmen verkauft wird. China
ist in Südosteuropa, auf dem
Westbalkan, jüngst auch er
folgreich in Italien auf Ein
kaufstour. Vermeintlich billige
Kredite führen geradewegs in
ökonomische und bald auch
politische Abhängigkeit. Peking
bekommt so de facto einen in
formellen Sitz im Europäischen
Rat. Europa ringt mit China um
gleichberechtigten Marktzu
gang, ist aber in der Situation
des Schwächeren. Das Reich
der Mitte hat zudem in wichti
gen Zukunftstechnologien die
Marktführerschaft erlangt.
<<
Freiheit und
Wohlstand bewahren
Europa droht im von den USA
ausgelösten Handelsstreit
zwischen den beiden Welt
mächten, der alten, zuneh
mend isolationistischen und
protektionistischen amerika
nischen und der neuen, wirt
schaftlich und militärisch
weltweit ausgreifenden chine
sischen, zerrieben zu werden.
Die europäischen Parteien
familien müssten eigentlich
darüber streiten, wie Europa
angesichts dieser Machtver
schiebungen seine Freiheit und
seinen Wohlstand bewahren
will. Aber die Europäer sind mit
sich selbst beschäftigt, unter
anderemmit teuren, ihr Ge
wicht in der Welt weiter min
dernden Scheidungen (Brexit)
und dadurch nicht leichter wer
denden Verhandlungen über
die künftigen Finanzgrundla
gen der Europäischen Union
(mehrjähriger Finanzrahmen).
Die Durchsetzung neuester
Digitalstandards und damit
die Sicherung von Innovations
kraft und Wettbewerbsfähig
keit behandeln die Europäer
nicht wirklich als gemeinsame
Aufgabe. Auch weitere strate
gische Fragen wie die der Ener
gieversorgung werden stark
durch die nationale Brille gese
hen und von nationalen Allein
gängen geprägt, die Debatten
über eine nachhaltige Energie
wende mit bezahlbarer Energie
und sicherer Versorgung nur
nach nationalen Präferenzen
geführt, obwohl sie Europa als
Ganzes betreffen.
Dass das deutsche Festhalten
an der Gaspipeline Nord
Stream II auch grundlegende
sicherheitspolitische Fragen in
Bezug auf die Abhängigkeit
von Russland aufwirft, ist ein
weiteres existenzielles Thema,
das eine „europäische Regie
rung“ eigentlich beschäftigen
müsste. Im Europawahlkampf
dürfte diese Frage, bei der es
immerhin um das Potenzial ei
ner Spaltung Europas geht, je
doch kaum eine Rolle spielen.
<<
Rüstungspolitik als
Elefant im Raum
Ein weiterer Elefant im Raum
wird die Frage der Rüstungspo
litik sein. Grundsätzlich besteht
zwar große Einigkeit hinsicht
lich der Notwendigkeit stärke
rer europäischer Integration in
der Außen- und Sicherheitspo
litik. Von europäischen Streit
kräften ist vielfach die Rede.
Wird es aber konkret, ist es mit
der Einigkeit vorbei. Trotzdem
scheint sich kaum eine deut
sche Partei zu trauen, eine Ver
lagerung des Parlamentsvorbe
halts für militärische Einsätze
auf das Europäische Parlament
zu fordern. Der Bundestag wird
seine strikte Kontrollfunktion
in militärischen Angelegenhei
ten jedoch nicht behalten kön
nen, wenn es jemals europäi
sche Streitkräfte geben soll.
Ebenso verhält es sich mit der
Rüstungskontrolle. Gemeinsa
me Beschaffung, gemeinsame
europäische Industrieprojekte
streben zwar viele an. Dass dies
aber eine gemeinsame europäi
sche Rüstungskontrollpolitik
erforderlich und eine nationale
schwierig macht, wird ungern
eingeräumt.
Grundsätzlich fehlt es an jeder
ernsthaften Auseinanderset
zung mit außen- und sicher
heitspolitischen Fragen, die
über Sonntagsreden hinausrei
chen. Dabei stellen sich sehr
konkrete Fragen: Kann der ame
rikanische Schutzschirm erhal
ten werden oder braucht es
eine eigenständige europäi
sche, auch nukleare Abschre
ckung? Wie kann gleichzeitig
ein neuer Rüstungswettlauf in
Europa vermieden werden? Wie
kann ein Status mit Russland
gefunden werden, der ihm sei
ne Einkreisungsängste nimmt,
seinen Revisionismus beendet
und wirtschaftliche Perspekti
ven in beiderseitigem Interesse
eröffnet, somit also eine neue
Partnerschaft ermöglicht? Was
in der Europadebatte vor der
Wahl vollkommen fehlt, ist zu
dem eine ernsthafte Auseinan
dersetzung mit dem südlichen
Nachbarn auf der anderen Seite
des Mittelmeeres. Es gibt we
der eine Nahost- noch eine Afri
ka-Strategie. Dabei wäre diese
mit Blick auf Migration, Märkte
der Zukunft, Zugang zu Res
sourcen und nachhaltige Ent
wicklung von grundlegender
Bedeutung, nicht nur für die
dortigen Partner, sondern auch
für Deutschland und Europa.
Es ist fraglich, ob Europa noch
viel Zeit bleibt, seine vielfälti
gen Binnenprobleme zu lösen,
ehe es sich ernsthaft diesen
und weiteren wirklich wichti
gen Fragen zuwendet. Hierüber
im Europawahlkampf zu strei
ten, würde lohnen. Die Welt
wartet nicht.
Christian Moos
... die Europäer sind mit sich selbst beschäftigt,
unter anderem mit teuren, ihr Gewicht in der
Welt weiter mindernden Scheidungen (Brexit) ...
Die Durchsetzung neuester Digitalstandards und
damit die Sicherung von Innovationskraft und
Wettbewerbsfähigkeit behandeln die Europäer
nicht wirklich als gemeinsame Aufgabe.
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dbb magazin | Mai 2019