Bund und Kommunen
Streikrecht der Gewerkschaften gegen Unternehmensverlagerung in Billiglohnländer
Kollektive Gewerkschaftsmaßnahmen können eine Beschränkung der europäischen Niederlassungsfreiheit darstellen. Diese Beschränkungen ist jedoch zum Zweck des Schutzes von Arbeitsplätzen und sozialen Standards zulässig. (EuGH, Urteil vom 11. Dezember 2007 - C-438/05)
Der Fall
Ein finnisches Fährunternehmen wollte seine Niederlassungen nach Estland verlegen, um von dem dort niedrigeren Lohnniveau zu profitieren. Eine finnische Gewerkschaft drohte dem Unternehmen mit Streiks und Boykott, um unter anderem den Abschluss eines Tarifvertrages zu erreichen, der vorsah, dass das Unternehmen auch im Falle einer Ausflaggung weiterhin finnisches Arbeitsrecht zu beachten hat und auf die Entlassung finnischer Arbeitnehmer verzichtet. Ein internationaler Gewerkschaftsverband rief seine Mitgliedsorganisationen dazu auf, keine Verhandlungen mit dem Unternehmen zu führen. Das Unternehmen klagte gegen die Gewerkschaft, Maßnahmen, die die Niederlassungsfreiheit hinsichtlich der Ausflaggung beeinträchtige, zu unterlassen und forderte den internationalen Gewerkschaftsverbund auf, dem Aufruf zu widerrufen.
Die Entscheidung
Die Gewerkschaft darf kollektive Maßnahmen ergreifen, um die Beschäftigungsbedingungen der betroffenen Arbeitnehmer zu verbessern. Kollektive Maßnahmen wie der beabsichtigte Streik stellen eine grundsätzliche Einschränkung der Niederlassungsfreiheit des finnischen Unternehmens nach Art. 43 EG dar. Gleichwohl ist die Einschränkung gerechtfertigt, wenn mit dem Streik ein Ziel aus zwingenden Gründen des Allgemeinwohls wie die Sicherung von Arbeitsplätzen und Arbeitsbedingungen angestrebt wird, vorausgesetzt deren Bestand ist tatsächlich gefährdet. Ferner darf kein milderes Mittel den Gewerkschaften zur Verfügung stehen. Allerdings dürfen die Maßnahmen mit keinen anderen Mitteln durchgeführt werden, als im Rahmen von Arbeitskampfmaßnahmen bei einer rein inländischen Unternehmensverlagerung. Insoweit darf ein Unternehmen, das seine Niederlassungen ins Ausland verlegt, nicht boykottiert werden; dies würde einer Handelsschranke gleich kommen. Auch darf die Maßnahme keine Abschottung des Arbeitsmarktes bewirken, zum Beispiel das Einstellen von Arbeitnehmern aus einem Mitgliedstaat verhindern. Eine diesbezügliche Gefahr besteht, wenn eine für alle einem internationalen Verbund angeschlossenen nationalen Gewerkschaften treffende Verpflichtung besteht, kollektive Maßnahmen einer ihrer Schwestergewerkschaften zu unterstützen.
Das Fazit
Weder dem Streikrecht der Gewerkschaft noch der Niederlassungsfreiheit der Unternehmen wird ein grundsätzlicher Vorrang eingeräumt. Die nationalen Gerichte müssen sich bemühen, einen gerechten Ausgleich zwischen der Vereinigungsfreiheit der Arbeitnehmer und deren Recht auf kollektive Maßnahmen sowie dem Recht des Arbeitgebers auf Wahrnehmung seiner Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit zu finden. Dieser Ausgleich führt vor allem über die Prüfung, ob kollektive Maßnahmen durch zwingende Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt und zur Zweckerreichung geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sind.