Mitwirkung bei Kündigungen - Grobe Pflichtverletzung bei einer Kündigung ohne Anhörung des Betriebsrats

Das Landesarbeitsgericht (LAG) Hessen hat entschieden, dass es eine grobe Pflichtverletzung des Arbeitgebers darstellen kann, wenn er Kündigungen ohne vorherige Anhörung des Betriebsrats ausspricht (LAG Hessen, Beschluss vom 08.08.2022, Aktenzeichen 16 TaBV 191/21).

Der Fall

Im Februar 2019 kündigte der Arbeitgeber einem Mitarbeiter, ohne den Betriebsrat zuvor angehört zu haben. Der Betriebsrat beanstandete dies schriftlich. Der Arbeitgeber entschuldigte dies damit, dass der Betriebsrat auf Wunsch des Betroffenen nicht informiert worden sei, weil die Kündigung in Abstimmung mit dem Rechtsbeistand und auf dessen Wunsch ausgesprochen worden sei, um aus der Aufhebungsvereinbarung eine Abwicklungsvereinbarung zu machen. Ende September 2020 erklärte der Arbeitgeber sechs krankheitsbedingte Kündigungen, ohne den Betriebsrat zuvor beteiligt zu haben. Der Arbeitgeber entschuldigte dies mit einem Versehen des zuständigen Sachbearbeiters der Personalabteilung und versicherte, dass es nicht wieder vorkommen werde. Im November 2020 beantragte der Betriebsrat beim Arbeitsgericht, dem Arbeitgeber aufzugeben, es unter Androhung eines Ordnungsgelds zu unterlassen, weiterhin Kündigungen auszusprechen, ohne zuvor den Betriebsrat zu beteiligen. Nachdem das Arbeitsgericht den Antrag zurückgewiesen hatte, legte der Betriebsrat mit Erfolg Beschwerde ein. Das LAG Hessen gab dem Betriebsrat Recht und gab dem Arbeitgeber bei Androhung eines Ordnungsgeldes in Höhe von bis zu 10.000 Euro pro Verstoß auf, es zu unterlassen, Kündigungen auszusprechen, ohne zuvor den Betriebsrat zu beteiligen.

Die Entscheidung

Das LAG Hessen entschied ganz im Sinne des Betriebsrats. Das Verhalten des Arbeitgebers, dem natürlich das Tun seiner Personalabteilung zurechenbar ist, stelle einen groben Verstoß des Arbeitgebers gegen seine Verpflichtungen aus dem Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) dar. Nach § 23 Abs. 3 BetrVG kann der Betriebsrat dem Arbeitgeber bei einem groben Verstoß gegen seine Verpflichtungen aus dem BetrVG durch das Arbeitsgericht aufgeben lassen, eine Handlung zu unterlassen. Entsprechend § 23 Abs. 3 BetrVG gab daher das Gericht dem Arbeitgeber auf, es künftig zu unterlassen, Kündigungen auszusprechen, ohne zuvor den Betriebsrat zu beteiligen. Für jeden Fall der Zuwiderhandlung drohte das Gericht ein Ordnungsgeld in Höhe von 10.000 Euro an. Nach § 102 Abs. 1 BetrVG ist der Betriebsrat vor jeder Kündigung zu hören. Der Arbeitgeber hat ihm die Gründe für die Kündigung mitzuteilen. Eine ohne Anhörung des Betriebsrats ausgesprochene Kündigung ist unwirksam. Diese Norm des § 23 Abs. 3 BetrVG gewährt dem Betriebsrat ein eigenes Recht, die Unterlassung grober Verstöße gegen dieses Gesetz geltend zu machen. Durch die Beteiligung des Betriebsrats vor dem Ausspruch von Kündigungen solle dieser Gelegenheit erhalten, dem Arbeitgeber die Sicht und Überlegungen der Arbeitnehmerseite zum Kündigungsentschluss zur Kenntnis zu bringen. Ein grober Verstoß des Arbeitgebers im Sinne von § 23 Abs. 3 BetrVG sei bei einer objektiv erheblichen und offensichtlich schwerwiegenden Pflichtverletzung zu bejahen, auf ein Verschulden des Arbeitgebers komme es dabei nicht an. Eine grobe Pflichtverletzung indiziere die Wiederholungsgefahr. Diese sei nur dann ausgeschlossen, wenn aus faktischen oder rechtlichen Gründen eine Wiederholung des betriebsverfassungswidrigen Verhaltens ausscheidet. Die bloße Zusicherung, zukünftig betriebsvereinbarungswidriges Verhalten zu unterlassen, genüge hierfür hingegen nicht. Danach liege in dem hier entschiedenen Fall ein grober Verstoß des Arbeitgebers gegen seine Verpflichtungen aus dem BetrVG vor. Dies ergebe sich zum einen aus der im Februar 2019 gegenüber dem Mitarbeiter ausgesprochenen Kündigung ohne vorherige Anhörung des Betriebsrats. Auch wenn dessen Rechtsbeistand im Rahmen von Aufhebungsverhandlungen um eine Arbeitgeberkündigung gebeten hatte, bleibe vor dem Ausspruch dieser Kündigung eine Betriebsratsanhörung erforderlich. Zum anderen komme der Ausspruch der sechs Kündigungen aus September 2020 hinzu, für die offensichtlich eine Anhörung des Betriebsrats nach § 102 Abs. 1 BetrVG erforderlich gewesen sei. Dies stelle der Arbeitgeber auch nicht in Abrede, sondern berufe sich auf ein Versehen des Personalsachbearbeiters. Da der Personalsachbearbeiter die Kündigungen bewusst auf Anweisung des Personalleiters ausgestellt habe, sei eindeutig, dass insoweit eine objektiv erhebliche und offensichtlich schwerwiegende Pflichtverletzung vorliege. Maßgeblich sei der offensichtliche Verstoß gegen § 102 Abs. 1 S. 1 BetrVG beim Ausspruch von sechs Kündigungen ohne vorherige Anhörung des Betriebsrats. Der Personalsachbearbeiter hätte im Rahmen der von ihm vorzunehmenden Einzelfallbearbeitung ohne weiteres erkennen können, dass der Betriebsrat vor Ausspruch der Kündigungen anzuhören ist. Die Pflichtverletzung sei schwerwiegend gewesen, denn der Betriebsrat habe seine kollektiven Rechte nicht zu Gunsten der von den Kündigungen betroffenen Arbeitnehmern gegenüber dem Arbeitgeber wahrnehmen können. Die festgestellte grobe Pflichtverletzung indiziere die Wiederholungsgefahr. Faktische oder rechtliche Gründe, die eine Wiederholung des betriebsverfassungswidrigen Verhaltens ausschließen, lägen nicht vor. Es könne jederzeit wieder vorkommen, dass der Personalsachbearbeiter vor dem Ausspruch von Kündigungen die Anhörung des Betriebsrats vergisst. Die Zusicherung, künftig betriebsverfassungswidriges Verhalten zu unterlassen, schließe die Wiederholungsgefahr nicht aus.

Das Fazit

§ 102 Abs. 1 BetrVG ist eines der wichtigsten Beteiligungsrechte des Betriebsrats. Eine Kündigung ohne die erforderliche vorherige Unterrichtung und Anhörung des Betriebsrats ist für den Arbeitgeber in zweierlei Hinsicht gefährlich. Zum einen hat diese Pflichtverletzung die Unwirksamkeit der Kündigung zur Folge. Zum anderen ist mit den betriebsverfassungsrechtlichen Konsequenzen zu rechnen, wenn der Betriebsrat einen entsprechenden Unterlassungsantrag stellt. Auch wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich in einem Gespräch darüber verständigen, dass das Arbeitsverhältnis durch eine arbeitgeberseitige Kündigung enden und eine Abwicklungsvereinbarung erfolgen soll, ist daher der Betriebsrat zu unterrichten und anzuhören. Diese Frage hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) bereits 2005 beantwortet (BAG, 28. Juni 2005, Aktenzeichen 1 ABR 25/04). Mag dies hier im ersten Fall noch offen gewesen sein, stellt das Verhalten des Arbeitgebers bei den sechs krankheitsbedingten Kündigungen im September 2020 einen eindeutig groben Verstoß dar. Damit wurde gleich mehrfach das wichtige Beteiligungsrecht des Betriebsrats nach § 102 BetrVG übergangen und die Rechte der betroffenen Beschäftigten erheblich eingeschränkt. Der Betriebsrat ist in mitbestimmten Betrieben vor jeder Kündigung anzuhören. Dies gilt nicht nur bei Probezeitkündigungen, wobei mangels Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes vor Ablauf der Wartezeit von sechs Monaten dann die Angabe, dass kein Interesse an der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses besteht, genügt (BAG, 12. September 2013, Aktenzeichen 6 AZR 121/12). Der Betriebsrat ist aber auch zu beteiligen, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich bereits im Vorfeld des Ausspruchs der Kündigung geeinigt haben. Auch wenn die Versuchung groß ist, in diesem Fall den Betriebsrat nicht zu beteiligen, birgt dies erhebliche Risiken. Zum einen kann der Arbeitnehmer die unterbliebene Beteiligung zu jedem späteren Zeitpunkt in einem Kündigungsschutzverfahren monieren, wenn er binnen drei Wochen Kündigungsschutzklage erhoben hat. Zum anderen kann der Betriebsrat den Verstoß gegen das zwingende Mitbestimmungsrecht rügen, eine grobe Pflichtverletzung geltend machen und ein Ordnungsgeld erwirken. Ist das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat gut, wird der Betriebsrat nach entsprechender informeller Unterrichtung über die Hintergründe neben der formellen und ordnungsgemäßen Anhörung im Regelfall die Frist des § 102 Abs. 2 BetrVG fruchtlos verstreichen lassen, so dass die Kündigung mitbestimmungskonform erfolgen kann.

Abschließend ist wichtig zu wissen, dass nicht allein der Arbeitgeber abmahnen und sanktionieren kann. Auch der Betriebsrat hat in § 23 Abs. 3 BetrVG ein Zwangsmittel, falls der Arbeitgeber die Rechte des Gremiums verletzt. Die Vorschrift berechtigt übrigens auch ausdrücklich die im Betrieb vertretenen Gewerkschaften, in solchen Fällen gegen Arbeitgeber vorzugehen.

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