Grundsatz der Tarifeinheit in Frage gestellt

Der Vierte Senat des Bundesarbeitsgerichts (BAG) beabsichtigt eine Änderung der Rechtsprechung zum Grundsatz der Tarifeinheit. Nach seiner Ansicht kann ein geltender Tarifvertrag nicht nach dem Grundsatz der Tarifeinheit verdrängt werden, wenn eine durch Mitgliedschaft oder durch die Stellung als Tarifvertragspartei begründete Tarifpluralität vorliegt. (BAG, Beschluss vom 27. Januar 2010 - 4 AZR 549/08 (A))

Der Fall

Der Kläger war als Arzt im Krankenhaus der Beklagten angestellt. Er ist Mitglied der Gewerkschaft Marburger Bund. Die Beklagte ist Mitglied im Kommunalen Arbeitgeberverband, der wiederum Mitglied in der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) ist. Für den Kläger und die Beklagte galt bis zum 30. September 2005 der BAT, der auch vom Marburger Bund, vertreten durch die Gewerkschaft ver.di, abgeschlossen worden war. Der ab dem 1. Oktober 2005 geltende TVöD wurde hingegen nicht mit dem Marburger Bund abgeschlossen, so dass die Beklagte neben dem TVöD auch an den zwischen der VKA und dem Marburger Bund weiterhin geltenden BAT gebunden blieb. Der zwischen der VKA und dem Marburger Bund abgeschlossene TV-Ärzte trat erst zum 1. August 2006 in Kraft. Mit seiner Klage machte der Kläger für den Zeitraum vom 1. Oktober 2005 bis zum 31. Juli 2006 die Zahlung eines Urlaubsaufschlags nach BAT geltend. Die Beklagte ist der Ansicht, dass ein solcher Anspruch nicht bestehe, da der BAT im fraglichen Zeitraum vom TVöD nach dem Grundsatz der Tarifeinheit verdrängt worden sei.

Die Entscheidung

Nach Ansicht des Vierten Senats des BAG hätte die Klage Erfolg. Der Vierte Senat ist der Auffassung, dass in dem Zeitraum vom 1. Oktober 2005 bis zum 31. Juli 2006 weiterhin der BAT auf das Arbeitsverhältnis des Klägers anwendbar war. Der BAT galt in diesem Zeitraum nach §§ 3 Abs. 1 und 4 Abs. 1 Tarifvertragsgesetz unmittelbar und zwingend zwischen den Tarifvertragsparteien. Es besteht auch keine gesetzliche Regelung, aus der die Verdrängung des BAT hervorgeht. Ebenso wenig ist anzunehmen, dass hier eine Regelungslücke im Tarifvertragsgesetz besteht, die ausgefüllt werden muss. Des Weiteren würde es einen Verstoß gegen das Grundrecht der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz bedeuten, wenn ein geltender Tarifvertrag verdrängt würde. Nach Ansicht des Vierten Senats hatte der Kläger daher im fraglichen Zeitraum einen Anspruch auf Urlaubsaufschlag nach BAT. Der Vierte Senat konnte hier jedoch noch keine abschließende Entscheidung treffen, da dies eine Abkehr von der bisherigen Rechtsauffassung des Zehnten Senats des BAG bedeutet hätte. Der Vierte Senat hat daher beim Zehnten Senat angefragt, ob dieser an seiner bisherigen Rechtsauffassung festhalten möchte.

Das Fazit

Nach der bisherigen Rechtsprechung des BAG galt der Grundsatz der Tarifeinheit. Dieser besagt, dass der speziellere Tarifvertrag vorgeht, wenn in einem Betrieb der Arbeitgeber an mehrere Tarifverträge gebunden ist, während für den Arbeitnehmer jeweils nur einer der Tarifverträge anwendbar ist (so genannte Tarifpluralität). Der Vierte Senat des BAG möchte diese Rechtsprechung nun aufgeben. Sollte der Zehnte Senat, der bisher an der Tarifeinheit festgehalten hat, allerdings bei seiner Rechtsauffassung bleiben, so muss die Frage dem Großen Senat zur Entscheidung vorgelegt werden. Die Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit hätte auch weitreichende Folgen für die Gewerkschaften. Zukünftig könnte ein Arbeitgeber mit verschiedenen Gewerkschaften Tarifverträge für deren Mitglieder im Betrieb vereinbaren, die dann jeweils für diese Mitglieder Geltung beanspruchen würden, ohne dass der für die Mehrheit der Beschäftigten geltende Tarifvertrag vorrangig wäre.

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