Zutritt einer Gewerkschaft zum Betrieb

Eine Gewerkschaft kann in der Regel einmal im Kalenderhalbjahr einen Betrieb zum Zweck der Mitgliederwerbung betreten, wenn sie dies rechtzeitig ankündigt. (BAG, Urteil vom 22. Juni 2010 - 1 AZR 179/09)

Der Fall

Die klagende Gewerkschaft ist für den Betrieb der Beklagten, einem Hoch- und Tiefbauunternehmen, zuständig. Bei der Beklagten existiert kein Betriebsrat, sie gehört auch keinem tarifschließenden Arbeitgeberverband an. Vertreter der Klägerin besuchten wiederholt Baustellen der Beklagten. Die Beklagte untersagte weitere Besuche und formulierte ein Schreiben vor, in dem die Beschäftigten erklären, nicht an Betriebsbesuchen von Gewerkschaftsvertretern interessiert zu sein. Dieses Schreiben wurde von 44 Beschäftigten unterzeichnet. Die Klägerin machte ein uneingeschränktes Zutrittsrecht zu den Baustellen der Beklagten geltend. Dieses stehe ihr aus Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz sowie aus § 13 des Bundesrahmentarifvertrags für das Baugewerbe zu. Mit ihrer Klage beantragte die Klägerin, dass die Beklagte den Besuch ihrer Baustellen durch Vertreter der Klägerin zum Zweck der Mitgliederwerbung und zur Information über tarifrechtliche Themen nach vorheriger Ankündigung jederzeit dulden muss. Die Beklagte ist der Ansicht, dass der Klägerin kein Zutrittsrecht zusteht, da die Beklagte nicht tarifgebunden ist und keine Rechtsbeziehung zu der Klägerin unterhält.

Die Entscheidung

Die Klage hatte keinen Erfolg. Das Zutrittsrecht von Gewerkschaftsvertretern zu einem Betrieb zum Zweck der Mitgliederwerbung ist nicht ausdrücklich geregelt. Ein solches Recht kann jedoch aus der richterrechtlich ausgestalteten Koalitionsbetätigungsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz folgen. Die Koalitionsbetätigungsfreiheit ist im Einzelfall mit dem Haus- und Eigentumsrecht sowie der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit des Arbeitgebers abzuwägen. Es ist also jeweils das konkrete Zutrittsverlangen der Gewerkschaft mit den zu erwartenden Beeinträchtigungen für den Arbeitgeber – zum Beispiel Organisationserfordernisse oder Störungen des Betriebsablaufs – abzuwägen. Das hier von der Klägerin geltend gemachte jederzeitige Zutrittsrecht besteht nach diesen Voraussetzungen nicht, da es die Beklagte zu stark beeinträchtigt. Die Klägerin hat nicht ausreichend begründet, warum ein jederzeitiges Zutrittsrecht erforderlich sein soll. Die Interessen der Arbeitgeberseite wären jedoch in der Regel dann nicht zu stark beeinträchtigt, wenn der Betrieb einmal im Kalenderhalbjahr zum Zweck der Mitgliederwerbung von betriebsfremden Gewerkschaftsvertretern aufgesucht würde, sofern die Gewerkschaft eine angemessene Ankündigungsfrist von einer Woche einhielte.

Das Fazit

Gewerkschaften haben grundsätzlich das Recht, Betriebe zum Zweck der Mitgliederwerbung aufzusuchen. Dieses Recht leitet das Bundesarbeitsgericht (BAG) aus der gemäß Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz geschützten Koalitionsbetätigungsfreiheit ab. Das Bundesverfassungsgericht ist in seiner Rechtsprechung zunächst davon ausgegangen, dass Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz lediglich die gewerkschaftliche Betätigung schützt, die für ihren Erhalt und Bestand unerlässlich ist (so genannte Kernbereichslehre). Diese Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht jedoch aufgegeben und damit die Zutrittsrechte der Gewerkschaften gestärkt. In der hier vorliegenden Entscheidung hat das BAG nun den zeitlichen Umfang der Zutrittsrechte konkretisiert. Danach könne eine Gewerkschaft einen Betrieb in der Regel einmal im Kalenderhalbjahr zum Zweck der Mitgliederwerbung betreten, wenn sie eine angemessene Ankündigungsfrist von einer Woche einhält.

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