dbb magazin 4/2019 - page 35

europa
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Die Autoren
Klaus Heeger ist Generalse­
kretär der European Confe­
deration of Independent
Trade Unions (CESI). Hendrik
Meerkamp ist Presserefe­
rent der CESI.
Europapolitik
Warum es in der EU
manchmal nicht vorangeht
Vor dem Hintergrund der anstehenden Europawahl fragen sich viele Men­
schen, weshalb es in der EU eigentlich nicht schneller „vorangeht“. Mitunter
klingt dabei ein Stück Unverständnis mit. Die Antwort muss erklären, was
„die EU“ ist und wer eigentlich für Entscheidungen verantwortlich zeichnet.
Wenn es in Europa nicht „vor­
angeht“, dann liegt dies oft
nicht an „Brüssel“, sondern
daran, dass imMinisterrat in
einzelnen Politikbereichen laut
EU-Verträgen, die einst von den
Regierungen der Mitgliedstaa­
ten mitverfasst wurden, noch
immer nach dem Einstimmig­
keitsprinzip abgestimmt wer­
den muss. Dann reicht es, dass
die Regierung eines einzigen
Mitgliedstaats nicht mitzieht,
um Entscheidungen zu verhin­
dern. Wie in der Migrations­
politik stehen europäischen
Lösungen dabei oft egoistische
Motive Einzelner imWege. Aber
auch die Steuerpolitik (Besteue­
rung digitaler, multinationaler
Konzerne, Finanztransaktions­
steuer) oder wichtige Teile der
Sozialpolitik unterliegen der
Einstimmigkeitsregel. Kommis­
sionsbeamte und Europaparla­
mentarier haben in Vier-Augen-
Gesprächen mit Vertretern der
CESI immer wieder geäußert,
wie frustriert sie sind, wenn im
Ministerrat Lösungen durch ein­
zelne oder wenige Regierungen
torpediert werden.
Die CESI, unter deren Dach
auch der dbb auf europäischer
Ebene organisiert ist, plädiert
deshalb dafür, dass die Mit­
gliedstaaten künftig auch in
Bereichen wie der Steuer- und
der Sozialpolitik von Einstim­
migkeitsregeln zum Prinzip der
Mehrheitsabstimmung über­
gehen. Der Vertrag von Lissa­
bon erlaubt dies explizit. Ein­
zelnen Mitgliedstaaten wäre
es dann nicht mehr möglich,
auf Kosten anderer wichtige
Vorhaben zu blockieren. Dabei
geht es im Übrigen ausdrück­
lich nicht um den Transfer neu­
er Kompetenzen an die EU. Es
geht darum zu ermöglichen,
dass die EU ihre bestehenden
Kompetenzen effektiver nut­
zen kann.
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Nationale Regierungen
als Bremsklötze
Allerdings würde auch das
nicht alle gewerkschaftlichen
Ziele automatisch in Erfüllung
gehen lassen. Selbst in Berei­
chen, in denen im Rat bereits
Mehrheitsentscheidungen vor­
gesehen sind, haben wir immer
wieder erlebt, wie ambitionier­
te Vorschläge der Europäischen
Kommission, die auch die CESI
begrüßt, im Rat keine Mehrheit
fanden oder aufgeweicht wur­
den. Während dieser Legisla­
turperiode betraf dies unter
anderem die Revision der Ar­
beitnehmerentsenderichtlinie
und neue Richtlinien für eine
verbesserte Vereinbarkeit von
Beruf und Privatleben für El­
tern und für Mindeststandards
zu transparenten und verlässli­
chen Arbeitsbedingungen. Ein
Vorschlag für eine Revision der
Mutterschutzrichtlinie wurde
gar einfach ignoriert, bis die
Europäische Kommission ihn
entnervt zurückzog.
Wir müssen „die EU“ also in
Schutz nehmen. In vielen Be­
reichen haben die Europäische
Kommission und auch das Eu­
ropaparlament in beachtens­
werter Weise versucht, Europa
sozialer zu gestalten. Vielmehr
sollten die Regierungsvertreter
aus Budapest, Prag und War­
schau, aber auch aus Paris,
Rom und Berlin mehr in die
Pflicht genommen werden.
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Zwischen Ehrgeiz und
mangelnder Initiative
Andererseits ist die CESI ent­
täuscht, dass die Europäische
Kommission an anderen Fron­
ten einem sozialeren Europa im
Wege steht. Ein nach der letz­
ten Europawahl angekündigter
„neuer Start“ für den sozialen
Dialog in Europa war ein Fehl­
schlag. Auch Aufrufe, Mitglied­
staaten mit großen Investitions­
lücken zu ermutigen, mehr Geld
für funktionstüchtige Bildungs-
und Gesundheitssysteme und
öffentliche Verwaltungen in die
Hand zu nehmen, stießen weit­
gehend auf taube Ohren.
Und nur langsam setzt sich die
Forderung durch, dass der wirt­
schafts- und finanzpolitisch of­
fene europäische Binnenmarkt
mit seinen vier Grundfreiheiten
(freier Warenverkehr, Personen­
freizügigkeit, Dienstleistungs­
freiheit, freier Kapital- und Zah­
lungsverkehr) durch eine echte
soziale Dimension vervollstän­
digt werden muss, weil er sonst
Schlupflöcher für missbräuchli­
che Arbeits- und Beschäfti­
gungsverhältnisse bietet.
Im Post- oder Verkehrssektor
stemmen wir uns nach wie vor
gegen immer weitere Liberali­
sierungspläne, während die
Kommission sich schwertut,
bessere Regelungen für Ausnah­
men des öffentlichen Dienstes
von Wettbewerb und staatli­
chen Beihilfevorschriften zu
schaffen. Manchmal kann weni­
ger Europa also auch mehr sein.
Denkt man an vergangene Dis­
kussionen über Flüchtlingsquo­
ten oder Verschuldungsgren­
zen unter dem Stabilitäts- und
Wachstumspakt, darf durchaus
kritisiert werden, dass die Eu­
ropäische Kommission Proble­
me mitunter ohne das nötige
politische Feingefühl und rein
„administrativ“ zu lösen sucht.
Auch Kommunikation kann so­
zial besetzt werden.
In jedem Fall lohnt sich eine
differenzierte Auseinanderset­
zung mit der Brüsseler Tagespo­
litik, um feststellen zu können,
wer für was verantwortlich ge­
macht werden kann.
Klaus Heeger,
Hendrik Meerkamp (CESI)
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