europa
<<
Die Autoren
Klaus Heeger ist Generalse
kretär der European Confe
deration of Independent
Trade Unions (CESI). Hendrik
Meerkamp ist Presserefe
rent der CESI.
Europapolitik
Warum es in der EU
manchmal nicht vorangeht
Vor dem Hintergrund der anstehenden Europawahl fragen sich viele Men
schen, weshalb es in der EU eigentlich nicht schneller „vorangeht“. Mitunter
klingt dabei ein Stück Unverständnis mit. Die Antwort muss erklären, was
„die EU“ ist und wer eigentlich für Entscheidungen verantwortlich zeichnet.
Wenn es in Europa nicht „vor
angeht“, dann liegt dies oft
nicht an „Brüssel“, sondern
daran, dass imMinisterrat in
einzelnen Politikbereichen laut
EU-Verträgen, die einst von den
Regierungen der Mitgliedstaa
ten mitverfasst wurden, noch
immer nach dem Einstimmig
keitsprinzip abgestimmt wer
den muss. Dann reicht es, dass
die Regierung eines einzigen
Mitgliedstaats nicht mitzieht,
um Entscheidungen zu verhin
dern. Wie in der Migrations
politik stehen europäischen
Lösungen dabei oft egoistische
Motive Einzelner imWege. Aber
auch die Steuerpolitik (Besteue
rung digitaler, multinationaler
Konzerne, Finanztransaktions
steuer) oder wichtige Teile der
Sozialpolitik unterliegen der
Einstimmigkeitsregel. Kommis
sionsbeamte und Europaparla
mentarier haben in Vier-Augen-
Gesprächen mit Vertretern der
CESI immer wieder geäußert,
wie frustriert sie sind, wenn im
Ministerrat Lösungen durch ein
zelne oder wenige Regierungen
torpediert werden.
Die CESI, unter deren Dach
auch der dbb auf europäischer
Ebene organisiert ist, plädiert
deshalb dafür, dass die Mit
gliedstaaten künftig auch in
Bereichen wie der Steuer- und
der Sozialpolitik von Einstim
migkeitsregeln zum Prinzip der
Mehrheitsabstimmung über
gehen. Der Vertrag von Lissa
bon erlaubt dies explizit. Ein
zelnen Mitgliedstaaten wäre
es dann nicht mehr möglich,
auf Kosten anderer wichtige
Vorhaben zu blockieren. Dabei
geht es im Übrigen ausdrück
lich nicht um den Transfer neu
er Kompetenzen an die EU. Es
geht darum zu ermöglichen,
dass die EU ihre bestehenden
Kompetenzen effektiver nut
zen kann.
<<
Nationale Regierungen
als Bremsklötze
Allerdings würde auch das
nicht alle gewerkschaftlichen
Ziele automatisch in Erfüllung
gehen lassen. Selbst in Berei
chen, in denen im Rat bereits
Mehrheitsentscheidungen vor
gesehen sind, haben wir immer
wieder erlebt, wie ambitionier
te Vorschläge der Europäischen
Kommission, die auch die CESI
begrüßt, im Rat keine Mehrheit
fanden oder aufgeweicht wur
den. Während dieser Legisla
turperiode betraf dies unter
anderem die Revision der Ar
beitnehmerentsenderichtlinie
und neue Richtlinien für eine
verbesserte Vereinbarkeit von
Beruf und Privatleben für El
tern und für Mindeststandards
zu transparenten und verlässli
chen Arbeitsbedingungen. Ein
Vorschlag für eine Revision der
Mutterschutzrichtlinie wurde
gar einfach ignoriert, bis die
Europäische Kommission ihn
entnervt zurückzog.
Wir müssen „die EU“ also in
Schutz nehmen. In vielen Be
reichen haben die Europäische
Kommission und auch das Eu
ropaparlament in beachtens
werter Weise versucht, Europa
sozialer zu gestalten. Vielmehr
sollten die Regierungsvertreter
aus Budapest, Prag und War
schau, aber auch aus Paris,
Rom und Berlin mehr in die
Pflicht genommen werden.
<<
Zwischen Ehrgeiz und
mangelnder Initiative
Andererseits ist die CESI ent
täuscht, dass die Europäische
Kommission an anderen Fron
ten einem sozialeren Europa im
Wege steht. Ein nach der letz
ten Europawahl angekündigter
„neuer Start“ für den sozialen
Dialog in Europa war ein Fehl
schlag. Auch Aufrufe, Mitglied
staaten mit großen Investitions
lücken zu ermutigen, mehr Geld
für funktionstüchtige Bildungs-
und Gesundheitssysteme und
öffentliche Verwaltungen in die
Hand zu nehmen, stießen weit
gehend auf taube Ohren.
Und nur langsam setzt sich die
Forderung durch, dass der wirt
schafts- und finanzpolitisch of
fene europäische Binnenmarkt
mit seinen vier Grundfreiheiten
(freier Warenverkehr, Personen
freizügigkeit, Dienstleistungs
freiheit, freier Kapital- und Zah
lungsverkehr) durch eine echte
soziale Dimension vervollstän
digt werden muss, weil er sonst
Schlupflöcher für missbräuchli
che Arbeits- und Beschäfti
gungsverhältnisse bietet.
Im Post- oder Verkehrssektor
stemmen wir uns nach wie vor
gegen immer weitere Liberali
sierungspläne, während die
Kommission sich schwertut,
bessere Regelungen für Ausnah
men des öffentlichen Dienstes
von Wettbewerb und staatli
chen Beihilfevorschriften zu
schaffen. Manchmal kann weni
ger Europa also auch mehr sein.
Denkt man an vergangene Dis
kussionen über Flüchtlingsquo
ten oder Verschuldungsgren
zen unter dem Stabilitäts- und
Wachstumspakt, darf durchaus
kritisiert werden, dass die Eu
ropäische Kommission Proble
me mitunter ohne das nötige
politische Feingefühl und rein
„administrativ“ zu lösen sucht.
Auch Kommunikation kann so
zial besetzt werden.
In jedem Fall lohnt sich eine
differenzierte Auseinanderset
zung mit der Brüsseler Tagespo
litik, um feststellen zu können,
wer für was verantwortlich ge
macht werden kann.
Klaus Heeger,
Hendrik Meerkamp (CESI)
© Colourbox.de
35
dbb
>
dbb magazin | April 2019