dbb Jahrestagung 2023
Albrecht von Lucke: Demokratie auf der Kippe?
Publizist Albrecht von Lucke erläuterte bei der dbb Jahrestagung die Zusammenhänge zwischen einem geschwächten Staat und zunehmender Radikalisierung.
Übertrage die Politik der Verwaltung Aufgaben, die jene nicht bewältigen könne, schwäche sie sich gleichzeitig selbst. Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit des Staates werde für alle sichtbar, machte von Lucke deutlich.
Die Silvesternacht mit ihren gewalttätigen Krawallen und Attacken auf Einsatz- und Rettungskräfte habe quasi als Signatur der Zeit gezeigt, dass der Staat zumindest in Teilen nicht mehr als stark, stabil, wehrhaft, handlungsfähig und auf der Höhe der Zeit agiere. Das Grundmotiv der Gesellschaft, Sicherheit für die Bürger, vor allem auch für die Bediensteten dieses Staates, sei bei den Ausschreitungen nicht gegeben gewesen und habe die Exekutive am Rande ihrer Handlungsfähigkeit gezeigt. „Nie erscheint der Staat angreifbarer, wenn er die eigenen Leute nicht schützen kann“, so der Jurist und Politikwissenschaftler. Von Lucke stellte die Frage, ob sich die Gesellschaft längst an diesen Zustand gewöhnt habe? Seit einigen Jahren würden alle Krisen auf die Verwaltungsebene nach unten durchgereicht. Diese solle erlassene Gesetze konkret durchsetzen, sei damit jedoch völlig überfordert. „Der gute Wille des Staates ist zu erkennen, aber er ist nicht handlungsfähig.“ Auch das Beispiel der Corona-Impfpflicht, die nicht durchgesetzt werden konnte, habe sich gezeigt, wie der Staat an die Grenze seiner Handlungsfähigkeit komme.
Als Ursache für die schwierige Lage des Staats identifizierte von Lucke die „Nichtexistenz von Staatsbürgerbewusstsein“. Ursprünglich lautete das Versprechen selbst eines autokratischen Staates, der Garant der Sicherheit der Bürger zu sein. Das Bewusstsein moderner Staatsbürgerinnen und Staatsbürger – „l’état, c‘ est nous“ („der Staat sind wir alle“) – sei in den letzten Jahrzehnten unter die Räder geraten. Das Untertanenbewusstsein des Deutschen Kaiserreiches sei inzwischen in sein Gegenteil umgeschlagen. Von Lucke zeichnet die Liberalisierungsbewegung von den Studentenunruhen des Jahres 1968, über Willy Brandts Versprechen, mehr Demokratie zu wagen, den Mauerfall und die Globalisierung bis hin zur Maxime „Privat vor Staat“ der Neunzigerjahre nach. All das habe zu einem Verfall des staatsbürgerlichen Bewusstseins geführt. Wutbürger, Reichsbürger anerkennten nur noch das eigene Ego als Maßstab, viele Menschen stellten mit ihren zunehmend radikaleren Protestformen den Staat grundsätzlich in Frage, so von Lucke und empfahl als „Ausweg“ eine breite Debatte zur Frage, wann und in welchem Maße dem Staat Respekt geschuldet werde? Die Sichtbarkeit des Staates müsse vor allem an Brennpunkten vergrößert, die politische Bildung vor allem in der Schule verbessert werden. Es brauche mehr personelle und materielle Mittel sowie eine „geistig-moralische Wende“ im Verhältnis vom Öffentlichen und Privaten. Der Staat brauche eine Generalüberholung, und dafür seien schlicht Steuererhöhungen vonnöten, erklärte von Lucke. Wenn in die öffentlichen Angelegenheiten investiert werde, dann bedeute das für privaten Konsum einen gewissen Rückschritt. Für einen starken Staat aber müsse eine Debatte geführt werden, was die Demokratie den Menschen wert sei.