Diskussion über Zuwanderung
Migration: Wie gut sind Deutschland und Europa vorbereitet?
Expertinnen und Experten diskutierten auf der dbb Jahrestagung die Frage, wie gut Deutschland und Europa in Sachen reguläre und irreguläre Migration vorbereitet sind.
Lena Düpont, Mitglied des Europäischen Parlaments, Dr. Parnian Parvanta, Vizepräsidentin der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen, Fabrice Leggeri, Exekutivdirektor der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) und Michael Stübgen, Minister des Innern und für Kommunales des Landes Brandenburg sprachen im hybriden Diskussionspanel über die anhaltende Krise der europäischen Migrationspolitik, die Uneinigkeit der EU-Staaten im Umgang mit der Aufnahme von Schutz suchenden Menschen und die anhaltenden Fluchtbewegungen über das Mittelmeer und andere Routen nach Europa.
Die Frage, wie mit dem Zustrom von Flüchtlingen nach Europa umgegangen werden soll, beantworteten 46 Prozent der Teilnehmenden an einer vom dbb in Auftrag gegebenen forsa-Umfrage mit „Sicherung der EU-Grenzen und Kontrollen“. 40 Prozent würden die Flüchtlinge zunächst nach Europa kommen lassen und dann verteilen. Lediglich sechs Prozent der Befragten sprachen sich für eine Sicherung und Kontrolle der deutschen Grenzen aus.
Lena Düpont (CDU), Mitglied des Europäischen Parlaments, betonte die europarechtliche Seite der Migrationspolitik. Obwohl das EU-Recht gemeinsame Zuständigkeiten für Migrations- und Asylpolitik vorsehe, sei die EU bei der Grenzsicherung organisatorisch weiter als bei der gemeinsamen Migrationspolitik. So lägen zum Beispiel die Kompetenzen für die Art und Weise, wie Einsätze laufen, bei den EU-Mitgliedsstaaten. „Bisher haben wir auf europäischer Ebene umgesetzt, was möglich war.“ Darunter fielen der Auf- und Ausbau von Frontex, die Verbesserung von IT-Strukturen und Pilotprojekte, zum Beispiel für die Unterbringung geflüchteter Menschen.
Der große Block Asyl- und Migrationspolitik müsse innerhalb der Mitgliedsstaaten aber noch grundlegend verbessert werden, auch, was die Zusammenarbeit betreffe, forderte Düpont. „Auch die EU-Kommission hat sich lange nicht so recht an dieses Thema herangetraut, und wie eine gemeinsame Lösung am Ende aussieht, wissen wir heute noch nicht.“ Für die Europaabgeordnete steht außer Frage, dass sich die EU-Mitgliedsstaaten auch weiterhin auf akute Krisen vorbereiten müssen. „Dabei muss Grenzschutz immer im Einklang mit menschenwürdigen Außengrenzen stehen.“ Darüber hinaus betonte Düpont, dass Asyl- und Migrationspolitik nicht vermischt werden dürften, was die Unterscheidung zwischen schutzberechtigt und nicht schutzberechtigt betreffe: „Asyl ist für eine vulnerable Gruppe gedacht, während legale Migration einen anderen Hintergrund hat.“
Fabrice Leggeri, Exekutivdirektor der europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex), stellte den Grenzschutz in Europa als einen Aspekt der Migrationspolitik dar, der Asylpolitik nicht ersetzen könne, während Migrationspolitik keine Probleme des Grenzschutzes löse. Frontex sei eingerichtet worden, um den Schengen-Raum mit seinen offenen Binnengrenzen zu schützen, indem die EU-Außengrenzen überwacht würden. Das klare Ziel des EU-Grenzmanagements sei, irreguläre Migration zu bewältigen und Kriminalität zu bekämpfen. „Dazu brauchen wir einen politischen Rechtsrahmen, eine EU-weit abgestimmte Politik. Der seit 2015 herrschende Mangel an europäischer Migrationspolitik hat keine guten Auswirkungen auf die Außengrenzen.“
Betrachte man die EU-Außengrenzen als gemeinsame Außengrenzen des Schengen-Raumes, müsse innerhalb der EU mehr politische Einigkeit herrschen, denn die Entscheidungen eines Landes könnten immer auch Auswirkungen an den Außengrenzen der anderen Länder haben kann: „Frontex ist aber nicht für Politik zuständig, sie setzt Politik um“, stellte Leggeri klar. Dennoch habe die EU zumindest beim Grenzmanagement Fortschritte gemacht, indem europäische Einsatzkräfte seit 2021 über eigene Grenzbeamte verfügten. Vorwürfe, Flüchtende würden an den Außengrenzen zum Teil wie Feinde behandelt, wies Leggeri zurück: „Frontex ist den Grundrechten verpflichtet. Es gibt Beobachter, und wenn Vorfälle wie Menschenrechtsverletzungen angezeigt werden, dann muss Frontex diese Fälle untersuchen.“ Weiter habe die Agentur mit ihren Einsatzkräften bereits viele Menschen im Mittelmeer gerettet, beispielsweise durch Drohneneinsatz, um Schiffbrüchige zu orten. „Es ist immer ein Scheitern, wenn Menschen sterben. Unsere Priorität ist es, das zu vermeiden.“
Dr. Parnian Parvanta, stellvertretende Vorstandsvorsitzende von Ärzte ohne Grenzen, sieht in der so genannten „Migrationskrise“ seit 2015 vor allem eine menschlich-solidarische Krise an den EU-Außengrenzen. Sie kritisierte scharf, „dass Menschen im Mittelmeer ertrinken oder dass sie zurückgeführt werden in Staaten wie Lybien, dass es Abschiebehaft gibt und dass die europäischen Regierungen das alles finanzieren und unterstützen“. Es sei ebenfalls humanitär fragwürdig, dass einige EU-Staaten die Genfer Flüchtlingskonvention einfach aussetzten und Deutschland das stillschweigend hinnehme.
„Die EU trägt die Verantwortung, wenn Menschenrechte an ihren Außengrenzen mit Füßen getreten werden und die Grenzpolitik einfach in Form von Pushbacks an die Außengrenzen Lybiens oder Afghanistans ausgelagert wird. Das ist unwürdig.“ So werde aus Grenzsicherung reine Abschottungspolitik. Parvanta forderte, mehr finanzielle Ressourcen in die Integration geflüchteter Menschen und die psycho-soziale Betreuung durch Gewalt und Flucht traumatisierter Menschen zu investieren. Persönlich habe sie als Flüchtlingskind aus Afghanistan schlicht „Glück gehabt, an Grenzpolizisten vorbei gefahren zu sein, die unser Auto nicht angehalten haben. Außerdem habe ich das Asylverfahren sehr jung im Schulalter durchlaufen. Auch das war Glück. Ich kenne auch Menschen, die nach Afghanistan zurückgeführt worden sind.“ Die EU brauche eine geordnete Migrationspolitik, die auch Menschen, die aus wirtschaftlichen Interessen nach Europa oder nach Deutschland kommen, eine faire Chance für Integration biete.
Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen betonte, dass das Recht auf Asyl nicht vermischt werden dürfe mit anderen Intentionen für Migration – „das Asylsystem ist kein Migrationssystem“. Beim der Gewährleistung und der Umsetzung des Asylrechts kämen Deutschland und EU ihren verfassungs- und völkerrechtlichen Verpflichtungen nach. „Hier geht es um Menschen, die verfolgt werden und bei uns um Schutz ersuchen. Diesen Schutz gewähren wir auf jeden Fall“, so Stübgen, „aber wenn Menschen den Wunsch haben, in einem Land wie Deutschland zu leben, fällt das nicht in den Bereich Asyl.“ Für diese Menschen müsse man zu einer geordneten Migrationspolitik kommen, die mit der Möglichkeit des so genannten „kleinen Spurwechsels“ bereits in Ansätzen in sinnhafter Verbindung mit dem Asylrecht über Ausbildungs- und Beschäftigungsduldung praktiziert werden könne.
Brandenburg praktiziert laut Stübgen bereits aktive Fachkräftezuwanderung und konnte so allein im vergangenen Jahr rund 2.000 Menschen aus dem Ausland für den heimischen Arbeitsmarkt gewinnen. Stübgen betonte, dass man in Deutschland und Europa neben einer über das Dublin2-Abkommen hinausgehenden Verteilungssystems von Geflüchteten auch zu einer besser geordneten und effektiveren Rückführung von abgelehnten Asylbeantragenden kommen müsse. Die Rückführung von ausreisepflichtigen Asylbewerbenden funktioniert deshalb nicht, weil die eigentlich rücknahmepflichtigen Herkunftsländer blockieren, etwa schon bei Ausstellung entsprechender Ausweispapiere. In dieser Frage müssen wir mehr Klarheit schaffen“, forderte der Innenminister von Brandenburg.
dbb Chef Ulrich Silberbach betonte in einem abschließenden Statement zum Panel, dass irreguläre Migration zu verhindern und reguläre Migration zu ermöglichen, zwei Seiten ein- und derselben Medaille seien. „Wir wissen, dass wir vor dem Hintergrund der Alterung unserer Gesellschaft dringend reguläre Migration brauchen – für unseren Arbeitsmarkt, aber auch für die Stabilität unserer sozialen Sicherungssysteme. Wir wissen aber auch, dass irreguläre Migration unsere Gesellschaft überfordern kann. Das gilt auch für den Staat und seinen öffentlichen Dienst, die wie viele unserer Kolleginnen und Kollegen bei Fragen der Migration, regulärer wie irregulärer, stark gefordert sind.“ Silberbach hielt fest, dass die personelle und sachliche Ausstattung der Behörden auch in Sachen Migration unvorhergesehenen Lagen standhalten müsse. Dies sei jedoch derzeit nicht der Fall, im europäischen und im internationalen Vergleich etwa der OECD-Länder gebe Deutschland mitunter am wenigsten für seinen öffentlichen Dienst aus und stehe auch beim Anteil der öffentlich Beschäftigten weit hinten. „Wir brauchen genug Polizei und Justiz, aber auch die Ressourcen in unserer allgemeinen Verwaltung, der Sozialverwaltung und an unseren Schulen, um eine gelingende Aufnahme und perspektivisch die Integration der Menschen sicherzustellen, die langfristig oder dauerhaft in Deutschland eine neue Heimat finden.“
Der dbb Bundesvorsitzende sprach sich für eine stärkere europäische Außen- und Sicherheitspolitik und mehr Kooperation in der Flüchtlingspolitik aus. „Um Menschen Schutz vor Flucht und Verfolgung bieten zu können, müssen wir diejenigen, die keinen Bleibegrund haben, auch in ihre Herkunftsländer zurückführen. Der Schutz der europäischen Außengrenzen ist dabei von zentraler Bedeutung. Die unverzichtbare Arbeit, die unsere Bundespolizei, Frontex und unsere europäischen Kolleginnen und Kollegen hier leisten, ist Voraussetzung für Sicherheit und jede Art von regulärer Migration“, betonte Silberbach. Unkontrollierte Zuwanderung gelte es zu verhindern, gleichwohl dürfe Europa nicht zu einer Festung werden oder erlauben, „dass menschenverachtende diktatorische Regime am Rande Europas uns erpressen und die legitimen Hoffnungen von Menschen auf ein besseres Leben ausnutzen, um unsere Gesellschaften in Europa zu destabilisieren.“ Wichtig sei insbesondere auch, „dass wir unsere humanitären Anstrengungen in den Herkunftsländern vervielfachen“, so Silberbach.
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