Digitalisierung
Wie der Staat digitaler werden kann
Kontakt-Verfolgung per Fax, Warnapp ohne Wumms - die Pandemie legt aus Sicht von Kritikern digitales Staatsversagen schonungslos offen.
„Wir brauchen einen Staat, der gegen globale Krisen gewappnet ist, die mit voller Wucht auch auf die Menschen in Deutschland durchschlagen“, sagte dbb Chef Ulrich Silberbach im dbb dialog am 26. April 2021 zum Thema „Zu teuer, zu langsam, zu unkoordiniert: Wie kann die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung doch noch gelingen?“
Auf der digitalen Veranstaltung mit Vertreterinnen aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft sagte Silberbach, der Kompetenzwirrwarr zwischen Bund, Ländern und verschiedenen Behörden behindere die Digitalisierung. Ein Beispiel dafür seien die Gesundheitsämter: Anfang Februar hatten 151 der 376 Gesundheitsämter die Corona-Software „Sormas“ genutzt, mit der Kontakte von Corona-Infizierten effizienter nachverfolgt werden sollen. Der dbb hat mit Mitarbeitern von Gesundheitsämtern über die Arbeitsabläufe gesprochen. „Das Ergebnis ist ernüchternd“, so Silberbach. Ein Mitarbeiter schilderte, er müsse in der digitalen Akte an 16 verschiedenen Stellen den Namen einer infizierten Person eingeben. „Das hat nichts mit smarter Digitalisierung zu tun.“
Datenschutz und Corona-Warnapp
Datenschutz sei wichtig, sagte Silberbach. „Aber bei den entscheidenden Daten im Kampf gegen das Coronavirus übertreiben wir es in Deutschland derzeit damit." Die Gesundheitsgefahren seien größer als die Risiken einer automatischen Weitergabe zentraler Infos: Wurde jemand positiv getestet? Wo war sie oder er seither? „Millionen Menschen lassen es rund um die Uhr ohne Bedenken zu, dass die Google-Dienste etwa bei der Standortermittlung diese Daten absaugen.“ Aber bei der Corona-Warnapp gebe es keine Lokalisierung der Nutzer. „Wenn die Menschen nicht selbst eingeben, wenn sie positiv getestet wurden, bringt sie nicht mehr als ein Briefbeschwerer“, sagte Silberbach gegenüber der dpa.
Vernetzung
Silberbach wies auf eine weitere große Schwachstelle für Bürgerinnen und Bürger sowie die Verwaltung hin. „Es gibt keine standardisierte Möglichkeit für die unterschiedlichen Behörden, sich schnell zu vernetzen und die nötigen Stammdaten auszutauschen, wenn jemand zum Beispiel einen Antrag auf Elterngeld oder andere Leistungen stellt. Hierfür wäre es nötig, den Bürgerinnen und Bürgern eine ID-Kennung zuzuweisen, diese in den Datensätzen bei allen Behörden hinzuzufügen und den unterschiedlichen Dienststellen dann in vorher festgelegten und transparent nachvollziehbaren Fällen zu erlauben, diese Daten zu benutzen.“ Das solle nun zwar mit der Steuer-Identifikationsnummer auch passieren. Der Bundesrat hatte Anfang März ein entsprechendes Gesetz verabschiedet. Silberbach meinte aber, es komme reichlich spät.
„Dazu kommt, dass wir in Deutschland digitale Tools meist erst einsetzen, wenn sie zu 110 Prozent geprüft sind“, stellte Silberbach fest. „In der Zwischenzeit kommen von allen möglichen Seiten Wünsche, was das Instrument unbedingt noch können muss oder keinesfalls darf.“ Bis es dann wirklich starte, sei es meist technisch schon veraltet oder so überfrachtet, dass es gar nicht richtig funktioniere.
Mit Spannung erwartet der dbb, welche Prioritäten die Parteien im beginnenden Bundestagswahlkampf setzen. Silberbach meinte: „In den vergangenen Jahren war der politische Mainstream, dass der Staat nicht allzu viel kosten darf.“
Von Notz: Verwaltung Grundlage für funktionierenden Staat
Konstantin von Notz, Fraktionsvize von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag, zeigte sich „als Bürger latent unzufrieden“ vom Bürokratieabbau. Er werde gerne gepredigt, ohne dass viel passiere. Der „harte Kern“ von Bürokratieabbau sei Rechtsstaatlichkeit. „Die Menschen müssen dem Vertrauen können, was die Politik anstößt.“ Nicht zuletzt seien viele Digitalisierungsprojekte letztlich am mangelnden Vertrauen der Bevölkerung gescheitert. Daher dürfe der Anspruch an Rechtsstaatlichkeit und gleichförmiges Verwaltungshandeln nicht unter dem Bürokratieabbau leiden.
„Unsere öffentliche Verwaltung ist eine der Grundlagen dafür, dass in Deutschland viele Dinge gut laufen“, so von Notz, als Beispiel den Datenschutz heranzog. Dieser schütze in Deutschland „höchstrangige Güter wie die Menschenwürde. Er verhindert Überwachung, Diskriminierung und Social Scoring, und das geht nur mit klaren rechtsstaatlichen Regeln. Daten dürfen nicht diskriminieren. Daher muss unsere Erzählung von Digitalisierung auch eine andere sein als die von Ländern, in denen Datenschutz und Rechtstaatlichkeit keine so große Rolle spielen“, zeigte sich von Notz überzeugt.
Das Beratungsbusiness in der öffentlichen Verwaltung beurteilte von Notz sehr kritisch. Externe Beratung diene oft dazu, politische und Verwaltungsprozesse auszulagern, statt unangenehme Entscheidungen selbst zu treffen.
Digitalisierungsprojekte müssten mit den Leuten vor Ort umgesetzt werden und Akzeptanz in der Bevölkerung finden. „Am Ende sprechen wir hier aber auch über kulturelle Unterschiede zu anderen Ländern, denn nach zwei Diktaturerfahrungen gibt es eine gewisse Skepsis gegenüber Digitalisierungsprojekten, und das ist per se nichts Schlechtes“. Für die Zukunft der Digitalisierung wünschte sich der Netzpolitiker, mit praktischen Einzelprojekten zu beginnen, diese rechtsstaatlich einwandfrei auszugestalten und dann darauf aufzubauen. „Dann kommt man auch zu was.“
Die Idee eines Digitalministers, wie sie bereits früher im Bundestag diskutiert wurde, mutet nach Auffassung des Netzpolitikers heute kurios an. „Digitale und analoge Politik kann nicht voneinander getrennt werden. Aber es braucht jemanden, der für das Gesamtbild verantwortlich sein will.“ Ein Grundproblem der Digitalisierung in Deutschland sei, dass es an Konsistenz in der Planung und Umsetzung von Digitalstrategien fehle. Statt eines Digitalministers forderte von Notz einen „Koordinator am Kabinettstisch, der Verantwortung übernimmt.“ So könne zudem verhindert werden, dass Beschäftigte, die Digitalisierungsprojekte umsetzen, demotiviert werden. „Ich kann das auch konkret machen: In der viertstärksten Wirtschaftsnation kann es nicht sein, dass eine Bundeskanzlerin damit kokettiert, Digitalisierung sei Neuland.“
Behrendt: Digitalisierung kein Selbstzweck
Britta Behrendt, die im Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat für das Onlinezugangsgesetz und eGovernment zuständig ist, machte deutlich: „Die Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Sie liefert dem Staat vielmehr die Möglichkeit, seine Aufgaben besser und effizienter zu erledigen. Zudem steckt in ihr großes Potential, uns näher an die Bürgerin und den Bürger zu bringen. Doch müssen wir uns auch fragen, welches Staatsverständnis wir haben, und wie wir Transparenz schaffen und Bürgerbeteiligung ermöglichen können.“
Nach Auffassung Behrendts steckt die Bundesverwaltung derzeit inmitten eines Kulturwandels: „Jedes Ministerium hat zwar eine digitale Abteilung doch zugleich stecken unsere Strukturen noch in der althergebrachten Silo-Organisation fest, die schon vor 200 Jahren existierte. Wir brauchen eine viel stärkere übergreifende Vernetzung. Und müssen stärker darüber austauschen, was gut gelaufen ist und was nicht.“
Positiv bewertete Behrendt, dass Bund und Ländern in ihren gemeinsamen „digitalen Laboren“ bereits zu neue Formen der Zusammenarbeit gefunden haben. Dass häufig genutzte Bild von der Digitalisierung als einer Herkulesaufgabe hält die Leiterin der Arbeitsgruppe DV1 im BMI allerdings für überholt: „Wir brauchend dafür nicht länger den einen starken Mann, das ist inzwischen eher ein Job für die Amazonen.“
Ausdrücklich stimmte Behrendt Konstantin von Notz zu, der mahnte, bei allen Digitalisierungsprozessen das hohe Gut der Rechtstaatlichkeit fest im Blick zu behalten: In diesem Zusammenhang sei es absolut fehl am Platz, Bürokratie als etwas ausschließlich Negatives darzustellen: „Sie ist vielmehr wichtig, um die Bürgerinnen und Bürger zu schützen“.
Zuversichtlich zeigte sich Behrendt, dass der Staat die Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes (OZG) im vorgesehenen Zeitrahmen durchführen wird. „Wir müssen die Ergebnisse jetzt sichtbar machen und auch in den Ländern und Kommunen zeigen, wie erfolgreich Digitalisierung inzwischen ist. Sie hoffe, dass auch weiterhin genügend Finanzmittel für die Digitalisierung Verfügung stehen werden, so Behrendt. „Vor allem Investitionen in unser Personal sind gut angelegtes Geld. So lassen sich auch teure Beraterhonorare einsparen.“ Der Erfolg von Digitalisierung hänge aber nicht nur am Geld,: „Sie ist auch abhängig von der Innovationsbereitschaft der Mitarbeitenden“, zeigte sich Behrendt überzeugt
Parycek: Deutschland muss von europäischen Nachbarn lernen
Peter Parycek weist auf die Erfahrungen in anderen Ländern hin. Man könne vor allem von den Nachbarländern lernen. „Die skandinavischen Länder haben gute Digitalisierungsstrategien und setzen die Maßnahmen auch gut um. In Deutschland hatten wir auch schon einige Digitalisierungsstrategien, aber wir kommen nicht in der Umsetzung voran.“ Dänemark könne ein Vorbild sein, da es in der Bevölkerungsstruktur vergleichbar mit Deutschland ist. In Dänemark wird jede Gesetzesnovelle auf Digitalisierungsmöglichkeiten geprüft. Von Anfang an bestünde demnach ein Bewusstsein, dass jede Entscheidung der Politik eine Auswirkung auf die Digitalisierungstauglichkeit hat.
Der Leiter des Kompetenzzentrums Öffentliche IT (ÖFIT) am Fraunhofer Fokus Institut Berlin sieht auch in der Zusammenarbeit der föderalen Strukturen einige Hürden. Um die Digitalisierung zu beschleunigen, brauche es eine andere Haltung und bessere Entscheidungsprozesse. „Das größte Problem ist, dass wir in Deutschland ein konservatives Gesamtsystem haben. Das betrifft die Ausgestaltung der Ministerien und die Datennutzung. Die Liebe zum Papier ist so stark ausgeprägt wie in keinem anderen Land in Europa. Bei der Cloud-Technologie im deutschsprachigen Raum gibt es eine extreme Zurückhaltung und das fällt uns gerade auf die Füße.“ In Richtung einer wohlmöglich zukünftigen Regierungsbeteiligung von Bündnis 90/Die Grünen, fragte Parycek nach der Haltung der Partei. „Digitalisierung ist eine Frage des Wollen und Könnens. Wollen wir tatsächlich einen Bürokratieabbau vorantreiben? Das ist auch mit Deregulierung verbunden.“
Die Bedenken im Hinblick auf den Datenschutz teilt Parycek nicht. Der Datenschutz würde grundsätzlich nicht infrage gestellt werden, aber die Auslegung könnte anders gestaltet sein. „Wir haben über eigene erhobene Daten herausgefunden, dass zwar viele Menschen aufgrund der jüngeren Vergangenheit kein Vertrauen in den Staat haben, was die Nutzung der Daten angeht. Aber ein großer Teil zweifelt auch daran, dass der Staat die digitale Kompetenz dazu hat“, sagte Parycek. „Mit jedem Jahr der Digitalisierung verlieren wir weiter das Vertrauen der Menschen. Wir müssen den Beweis antreten, dass wir mit Technologien umgehen können.“
Reinhardt: Datenschutz kein Hemmnis für Digitalisierung
Marc Reinhardt, Executive Vice President von Capgemini und dort verantwortlich für „Public Sector & Healthcare“, betonte, dass die Digitalisierung staatlicher Leistungen nur von Verwaltung und Unternehmen gemeinsam bewältigt werden könne. „Als Bürger ist es mir auch wichtig, dass die Definition der Ziele und die Steuerung in öffentlicher Hand bleibt, da darf der Staat nicht zu viel Souveränität an die Privatwirtschaft abgeben, das zeigen meines Erachten einige Beispiele aus dem angelsächsischen Raum“, so Reinhardt, der auch Vizepräsident der Initiative D21 ist. Reinhardt betonte außerdem, dass die es auch in der Wirtschaft viele Akteure gebe, die bei der Digitalisierung noch Nachholbedarf hätte. „Gerade große Unternehmen sind teilweise bürokratischer als so manche Stadtverwaltung“, sagte Reinhardt.
Eine Herausforderung bei der Digitalisierung der Verwaltung sei die Komplexität der Gesetzgebung, erklärte der Manager. „Ein Vorhaben mag oft einfach klingen, aber wenn dann im Gesetzgebungsverfahren noch zig Ausnahmen für jede Regel definiert werden, lässt sich das eben auch IT-seitig irgendwann nicht mehr so einfach umsetzen.“ Weitere vieldiskutierte Probleme, wie etwa die Finanzierung oder den Datenschutz, hält Marc Reinhardt hingegen für beherrschbar. „Entscheidend ist aber, dass die Bürgerinnen und Bürgern auch das nötige Vertrauen in den Staat entwickeln. Und der Staat seinerseits muss dieses Vertrauen auch einfordern.“
Video: „Zu teuer, zu langsam, zu unkoordiniert: Wie kann die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung doch noch gelingen?“