dbb magazin 1-2/2019 - page 32

europa
„Wir dürfen den Bestand unserer Grundwerte
nie als Selbstverständlichkeit nehmen“
Die freiheitlich-demokratischen Grundwerte der Europäischen Union geraten in manchen Mitglieds­
staaten ins Wanken. Die Erosion von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit kann zur Gefahr für die ge­
samte EU werden. Europaminister Michael Roth setzt auf Dialog, aber auch auf klare Kante bei der
Verteidigung der gemeinsamen europäischen Identität.
Wie gefährdet sind Demokra-
tie und Rechtsstaatlichkeit in
Europa?
Derzeit streiten wir in der EU
ausgerechnet darüber am
heftigsten, was uns in den ver­
gangenen Jahrzehnten stark-
gemacht hat: Demokratie,
Rechtsstaatlichkeit, Presse- und
Meinungsfreiheit, der Schutz
von Minderheiten sowie die
Gleichstellung von Männern
und Frauen. In einigen EU-Staa­
ten wie Polen, Ungarn oder Ru­
mänien gibt es Entwicklungen,
zu denen man nicht schweigen
darf. Wenn Demokratie infrage
gestellt wird, wenn rechts­
staatliche Grundprinzipien aus­
gehöhlt werden, dann steht
das Fundament für unser regel­
basiertes Zusammenleben auf
dem Spiel. Diese Entwicklun­
gen zeigen auch: Wir dürfen
den Bestand unserer Grund­
werte nie als Selbstverständ­
lichkeit nehmen. Jeden Tag
aufs Neue müssen wir sie in Eu­
ropa pflegen und verteidigen.
Denn die EU ist eben mehr als
nur ein Binnenmarkt. Sie ist vor
allem eine Wertegemeinschaft.
Das ist der Kern unserer euro­
päischen Identität.
Gegen Polen und Ungarn lau-
fen bereits Rechtsstaatsver-
fahren. Wie ist die aktuelle
Lage, und wie bewertet die
Bundesregierung die Entwick-
lung in Rumänien?
Das Rechtsstaatsverfahren ge­
gen Polen im Rat der Europäi­
schen Union dauert an. Erst
kürzlich verpflichtete der
Europäische Gerichtshof die
polnische Regierung dazu,
die Zwangspensionierung von
Richterinnen und Richtern des
Obersten Gerichtshofes wieder
zurückzunehmen. Das war ein
erster Sieg für den Rechtsstaat!
Wir bleiben weiterhin im en­
gen Dialog mit unseren polni­
schen Partnerinnen und Part­
nern, da noch nicht alle Sorgen
der EU-Kommission ausge­
räumt sind.
Ich teile die Sorge, die das Eu­
ropäische Parlament in seinem
Bericht zur Lage in Ungarn zum
Ausdruck gebracht hat. Das Eu­
ropäische Parlament kritisiert
eine Reihe von Punkten: von
der Einschränkung der Unab­
hängigkeit der Justiz, der Medi­
enfreiheit, der Meinungsfrei­
heit bis hin zu Korruption und
eingeschränkten Rechten von
Minderheiten sowie Diskrimi­
nierung von Flüchtlingen. Und
es ist für mich mit europäi­
schen Werten nicht vereinbar,
dass sich die ungarische Regie­
rung gegen eine Lösung zum
Verbleib der Central European
University gestellt hat. Diese
Universität wird offenkundig
aus politischer Motivation her­
aus gezwungen, den Großteil
ihrer Lehrtätigkeit von Buda­
pest nach Wien zu verlagern
– obwohl sie alle Vorgaben er­
füllt hat. Das ist ein Angriff auf
die Freiheit der Wissenschaft
– und das mitten in Europa.
Auch die Situation in Rumäni­
en macht mir Sorgen. Eine Re­
form des rumänischen Justiz­
systems und des Strafrechts
führt dazu, dass Rumäniens
durchaus beachtliche Erfolge in
den Bereichen Rechtsstaatlich­
keit und Korruptionsbekämp­
fung stagnieren, ja sogar Rück­
schritte festzustellen sind.
Was kann auf europäischer
Ebene getan werden, um die
freiheitliche Grundordnung in
einzelnen Mitgliedstaaten zu
schützen?
Oft wird gefragt, ob die vorhan­
denen Mechanismen nicht ein
stumpfes Schwert seien. Richtig
ist: Im Instrumentenkasten der
EU fehlt noch ein praktikabler
Mechanismus, der auf der Eska­
lationsstufe irgendwo zwischen
den klassischen Vertragsverlet­
zungsverfahren und der „politi­
schen Bombe“, also dem Ver­
fahren nach Art. 7 EUV, zu
verorten ist. Und es ist offen­
sichtlich: In der Praxis ist es
deutlich schwieriger, Demokra­
tie- und Freiheitssünden zu
ahnden als beispielsweise
Haushaltssünden.
Daher sollten wir im Rahmen
der anstehenden Verhandlun­
gen über den mehrjährigen
Finanzrahmen das Thema
Rechtsstaatlichkeit prioritär ein­
beziehen: Ich unterstütze den
Vorschlag der EU-Kommission,
die Auszahlung von EU-Mitteln
künftig an die Einhaltung
rechtsstaatlicher Prinzipien zu
koppeln. Aber daneben brau­
chen wir auch Instrumente, mit
denen wir unsere Wertege­
meinschaft präventiv stärken
können. Deshalb rege ich an, bei
der Vergabe von EU-Mitteln die
europäischen Grundwerte nicht
zu vergessen. Nichtregierungs-
und zivilgesellschaftliche Orga?
nachgefragt bei ...
... Michael Roth, Staatsminister für Europa
© Susi Knoll
<
Michael Roth
32
dbb
>
dbb magazin | Januar/Februar 2019
1...,22,23,24,25,26,27,28,29,30,31 33,34,35,36,37,38,39,40,41,42,...48
Powered by FlippingBook