Gastbeitrag der EBD-Präsidentin Dr. Linn Selle
Bewertung „State of the Union“-Rede 2023 der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen
Ein zentrales europapolitisches Jahr liegt vor uns - und wir können uns darauf freuen.
Denn mit der Rede zur Lage der Europäischen Union - oder wie es jetzt so schön heißt: SOTEU23 - hat die EU-Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyen den Auftakt eingeläutet zu einem europapolitischen Highlight-Jahr, dessen Krönung die Wahlen zum Europäischen Parlament vom 6. bis 9. Juni 2024 sein werden.
In ihrer Rede vor dem Europäischen Parlament sprach die Kommissionspräsidentin alle relevanten Politikfelder und Herausforderungen an, zeichnete die großen Linien der Freiheit, Demokratie und europäischer Grundwerte, kündigte Gesprächsformate und Gipfel zu den wichtigen Themen der Sozialpartnerschaft, KI und der europäischen Agrarpolitik an und sorgte mit ihrer Ankündigung, die chinesischen Subvention für Elektrofahrzeuge streng zu prüfen für reichlich Aufregung. Aber sie versäumte es leider, bei den besonders drängenden Themen innerhalb der Europäischen Union wie der gefährdeten Rechtstaatlichkeit, EU-Erweiterung und Vertiefung, oder dem Migrations- und Asylpaket in eine echte gestalterische Rolle zu schlüpfen, um diese wichtigen Prozesse zu beschleunigen und aktiv zu gestalten. Sie blieb zu oft im Ungefähren und der Ankündigung, welche Themen sie in Zukunft besonders in Angriff nehmen möchte. Und dies in ihrem aktuell letzten Jahr als scheidende EU-Kommissionpräsidentin.
Gerade beim Thema Erweiterung und EU-Reform, die so eng miteinander verknüpft sind, verpasste sie es die Ergebnisse der von ihr initiierten Konferenz zur Zukunft der EU aufzunehmen und kündigte stattdessen an, kommissionsintern Maßnahmen zur Steigerung der Handlungsfähigkeit innerhalb der bestehenden Verträge zu erarbeiten und deutete dazu an, Erweiterung und Vertiefung getrennt behandeln zu wollen. Dies beschleunigt zwar möglicherweise die Erweiterung, riskiert aber, dass sich die EU ohne Vertragsänderungen sehenden Auges in die eigene Handlungsunfähigkeit bewegt, gefesselt von potentiell über 30 Vetorechten der einzelnen Mitgliedsstaaten. In der Rolle des Gatekeepers zur EU und der Gestalterin zukünftiger Vertragsänderungen hätte auch hier eine präzisere Vision folgen müssen. Dies ist besonders zu bedauern, da sich der Zeitrahmen für politische Lösungen in allen Themen mit den 2024 anstehenden Europawahlen immer weiter verengt.
Bis zu den Europawahlen im Juni 2024 wird es allerdings noch viel zu diskutieren geben, denn in den kommenden Monaten erwarten uns viele europapolitisch bedeutsame Debatten, auch mit Blick auf die Reform der EU. Den Startschuss gab neben der #SOTEU23 der Bericht der deutsch-französischen Experten- und Expertinnengruppe zu institutionellen Reformen der EU. Zusammen mit den Ergebnissen der Konferenz zur Zukunft Europas und einer vom Auswärtigen Amt angekündigten Europakonferenz Anfang November dieses Jahres zur Vertiefung und Erweiterung stehen wir nun vor einer Zeit intensiver Auseinandersetzungen über die Zukunft und den Kern der Europäischen Union.
Die jetzt einsetzende Dynamik in dieser Debatte verleiht mir Hoffnung, dass notwendige Reformen und Kompromisse bald in Reichweite sind und nimmt uns gleichzeitig alle in Verantwortung, die anstehenden Debatten und Diskussionen pro-aktiv und sachlich zu begleiten. Denn Europa ist zu wichtig, um es allein der Politik zu überlassen und es liegt nun an uns allen, diese Reformen in die richtige Richtung zu steuern und zu einer immer besseren EU beizutragen.