Gespräch mit Prof. Dr. Funda Tekin
Der Ausgang der Bundestagswahl und Europa
Was bedeutet der Ausgang der Bundestagswahl für Europa? Welche Bedeutung wird Europa für die nächste Bundesregierung haben? Eine Expertin gibt Antworten.
dbb europathemen: Welche zentralen Schlussfolgerungen ziehen Sie als Europaexpertin aus dem Ergebnis der Bundestagswahl?
Tekin: Eine klare europapolitische Schlussfolgerung wird wohl erst möglich sein, nachdem Koalitionsverhandlungen abgeschlossen worden sind. Europapolitik hat im Wahlkampf selbst keine entscheidende Rolle gespielt. Dies ist für nationale Wahlkämpfe nicht verwunderlich. Europapolitische Positionen der Parteien sind jedoch relevant und werden in den Koalitionsverhandlungen zu einer Agenda zusammengefügt.
Heute können dennoch bereits einige wichtige Erkenntnisse festgehalten werden. Zunächst ist die historisch hohe Wahlbeteiligung von 83,5 Prozent positiv hervorzuheben. Diese vorgezogenen Wahlen haben Menschen mobilisiert. Allerdings wurden in diesen Wahlen die extremen Ränder gestärkt und die demokratische Mitte ausgehöhlt. Dem leichten Zugewinn an Stimmen der CDU/CSU, welcher noch immer zum zweitschlechtesten Wahlergebnis der Union geführt hat, stehen ein historischer Stimmenverlust von fast 10 Prozentpunkten bei der SPD und leichte Einbußen bei den Grünen gegenüber. Die Stimmeneinbußen bei der FDP haben sogar einen Einzug in den Bundestag verhindert. Dies bringt mich zu meiner dritten Erkenntnis: Das Wahlergebnis führt zu einem Mangel an praktikablen Koalitionsoptionen. Die Koalition aus CDU/CSU und AfD, obwohl rechnerisch möglich, wird von der Union politisch ausgeschlossen. Es bleibt also lediglich die Möglichkeit einer Neuauflage der sogenannten Großen Koalition – ein freiwilliges Dreierbündnis mit den Grünen scheint in Anbetracht des andauernden Widerstands der CSU höchst unwahrscheinlich.
Am Wahlabend wurde immer wieder betont, dass Europa und die Welt nicht auf Deutschland warten würden. Die europäischen und globalen politischen Herausforderungen erfordern eine schnelle Koalitionsbildung. Es ist zu wünschen, dass dies auch gelingt. Europapolitisch lässt sich von den Äußerungen des möglichen neuen Bundeskanzlers Friedrich Merz während des Wahlkampfes und vom Wahlabend ein Führungs- und Gestaltungsanspruch ableiten. Inwiefern er diesen auch in die Tat umsetzen kann, wird sich zeigen müssen. Die sogenannte „German Vote“ [deutsche Enthaltung im Rat wegen fehlender regierungsinterner Abstimmung] ist keine Erfindung der gescheiterten Ampelkoalition. In der Geschichte der deutschen Europapolitik haben Regierungsvertreter immer wieder zum Mittel der Enthaltung im Rat der Europäischen Union greifen müssen, weil es keine gemeinsame Position innerhalb der Regierungskoalition gegeben hat. Merz hat den klaren Anspruch, die „German Vote“ abzuschaffen. Das wird aber auch davon abhängen, wie kompromissfähig die Parteien der zukünftigen Koalition sein werden.
dbb europathemen: Der Umgang mit der Migration wurde in der heißen Wahlkampfphase zum Hauptthema. Welche Rolle spielt Europa bei der Migrationssteuerung?
Tekin: Die Strategie der CDU/CSU, die Migrationspolitik in der heißen Wahlkampfphase zu instrumentalisieren und dabei eine gemeinsame Abstimmung mit der AfD in Kauf zu nehmen, ist aus verschiedenen Gründen kritisch zu betrachten. Die Union konnte dadurch nicht bedeutend mehr Wählerstimmen gewinnen. Einzig die Partei Die Linke scheint durch die Debatten im Bundestag und die Kritik an der gemeinsamen Abstimmung mit der AfD profitiert zu haben. Sie hat im Vergleich zur letzten Bundestagswahl knapp vier Prozentpunkte hinzugewonnen. Neben der Debatte um die Gefährdung der Brandmauer gegenüber der AfD im deutschen Bundestag ist die Migrationsdebatte aber vor allem auch inhaltlich kritisch zu betrachten. Der sogenannte Fünf-Punkte-Plan der CDU/CSU, der unter anderem dauerhafte Grenzkontrollen, Zurückweisung an deutschen Grenzen und Abschiebehaft als Maßnahmen propagiert, kann nicht ohne eine europarechtliche Einordnung bewertet werden. Grundsätzlich gilt, dass das EU Recht Vorrang vor dem nationalen Recht hat. Somit spielt Europa eine entscheidende Rolle bei der Migrationssteuerung. Migrationspolitische Maßnahmen in Deutschland müssen daher den europapolitischen Regeln entsprechen. Diese wurden erst kürzlich durch die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems überarbeitet. Dennoch sind die Regeln des sogenannten Dublin-Systems noch immer dysfunktional. Dies bietet jedoch keine Rechtfertigungsgrundlage für deren Missachtung. Auch die Einführung von Grenzkontrollen an Binnengrenzen im Schengenraum ist klar im Schengener Grenzkodex geregelt. Sie müssen als Reaktion auf eine ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit einen Ausnahmefall darstellen, verhältnismäßig sein und als letztes Mittel genutzt werden. Dauerhafte Grenzkontrollen, wie es der Fünf-Punkte-Plan für Deutschland vorsieht, würden die Ausnahme jedoch zum Regelfall machen. Für die Belastung Deutschlands in der Migrations- und Asylpolitik muss eine Lösung gefunden werden. Hierfür darf sich jedoch weder über das Europarecht hinweggesetzt noch die Einheit des Schengenraumes unterminiert werden.
dbb europathemen: Glaubt man den Vertretern der proeuropäischen Parteien, wird es in Deutschland keine Regierung mit oder gestützt auf europaskeptische Parteien geben. Zumindest in der Opposition wurden diese aber durch die Wahl massiv gestärkt. Hat das Auswirkungen auf die künftige deutsche Europapolitik?
Tekin: Die europaskeptische AfD hat ihr Wahlergebnis im Vergleich zu den letzten Bundestagswahlen nahezu verdoppeln können. Sie ist mit 20,8 Prozent die zweitstärkste Kraft im Bundestag geworden. Auch wenn die Spitzenkandidatin Alice Weidel am Wahlabend betont hat, dass die AfD für eine Koalition mit der CDU/CSU zur Verfügung stehen würde, ist eine Regierungsbeteiligung doch sehr unwahrscheinlich. Die Union hat eine Zusammenarbeit mit der AfD kategorisch ausgeschlossen. Die Instrumentalisierung der Migrations- und Asylpolitik während des Wahlkampfes hat jedoch gezeigt, dass die Versuchung existiert, Themen von anderen Parteien zu übernehmen, um die eigene Wählerbasis zu stärken. Solche Strategien sind aber meistens nicht erfolgreich. Demokratische Parteien können in den seltensten Fällen dadurch gewinnen, dass sie Positionen populistischer Parteien übernehmen. Im Gegenteil können solche Strategien zur Normalisierung populistischer Positionen beitragen.
Es ist nun also für die deutsche Europapolitik wichtig, dass eine Koalition gebildet wird, die auf stabilen Mehrheitsverhältnissen fußt und deren gemeinsame Positionen konstruktive Lösungen für die europapolitischen Herausforderungen anbieten.
dbb europathemen: In der EU gibt es immer mehr Staats- und Regierungschefs, die entweder selbst europaskeptisch sind oder sich in ihren Ländern auf in Teilen europaskeptische Mehrheiten stützen. Was bedeutet das für Europas Zukunft?
Tekin: Die Ergebnisse der Bundestagswahl bestätigen den zunehmenden Einfluss konservativer Politik in Europa. Dieser Trend hat sich bereits bei den Europawahlen im Jahr 2024 abgezeichnet. Die Europäische Volkspartei (EVP) hat nicht nur die Mehrheit im Europäischen Parlament. Auch die Kommissionspräsidentin Ursula Von der Leyen stammt aus dieser Parteienfamilie. Im Europäischen Rat wären mit einem Bundeskanzler Friedrich Merz 12 der 27 Staats- und Regierungschefs aus den Reihen der EVP. Zwei Staats- und Regierungschefs sind von den Europäischen Konservativen und Reformisten und der ungarische Regierungschef Victor Orban gehört den europaskeptischen Patrioten für Europa an.
Die Herausforderung bei Entscheidungen im Europäischen Rat liegt darin, dass diese im Konsens zu treffen sind. Somit reicht bereits eine (europaskeptische) abweichende Position aus, um die Entscheidungsfindung im Europäischen Rat zumindest schwierig zu gestalten. Im Dezember 2023 hat Bundeskanzler Olaf Scholz eine drohende Blockade der Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und Moldau dadurch abgewendet, dass er Victor Orban vorgeschlagen hat, während der Abstimmung in die Kaffeepause zu gehen. Das mag ein cleverer Schachzug gewesen sein – eine nachhaltige Lösungsstrategie kann ein solches Vorgehen jedoch nicht darstellen.
Das Ringen um (pro-)europäische Lösungen im Europäischen Rat bleibt in Zukunft herausfordernd. Auch deswegen, weil Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit als Ausweg umstritten bleiben. In der Vergangenheit konnten Blockaden auch immer wieder durch sogenannte Paketlösungen aufgelöst werden. Hierbei darf aber nicht riskiert werden, dass Grundwerte wie die Rechtsstaatlichkeit Zugunsten einer Entscheidungsfindung verwässert werden.
dbb europathemen: Was sind die zentralen europapolitischen Aufgaben und Herausforderung der nächsten Bundesregierung?
Tekin: An europapolitischen Aufgaben und Herausforderungen wird es der neuen Bundesregierung nicht mangeln. Aus diesem Grund wurde am Wahlabend auch immer wieder betont, dass die aktuelle politische Lage eine schnelle Koalitionsbildung erforderlich mache. Gerade in den letzten Wochen hat sich das Ausmaß der Zerrüttung der transatlantischen Beziehungen seit dem Amtsantritt von Präsident Donald Trump gezeigt. Europa kann sich in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht mehr auf den Verbündeten auf der anderen Seite des Atlantiks verlassen. Im Gegenteil, die USA machen Anstalten über die Köpfe der Europäer hinweg und ohne Einbindung der Ukraine mit Russland über eine Beendigung des Krieges in der Ukraine zu verhandeln. Es wird also Zeit, dass die EU tatsächlich eine Zeitenwende in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik einläutet. Hierfür sind gemeinsame Verteidigungsprojekte und deren Finanzierung notwendig. Es bleibt abzuwarten, wie sich eine zukünftige Koalition in Bezug auf gemeinsame Schulden für die Verteidigungsfinanzierung positionieren wird. Eine weitere Herausforderung liegt in der Wettbewerbsfähigkeit der EU. Der Draghi-Bericht hat einen umfassenden Punkteplan dargelegt, der unbedingt in Angriff genommen werden muss. Der Binnenmarkt gerät darüber hinaus durch die von den USA angedrohten Zollerhebungen unter enormen Druck. Ein Handelskrieg wäre für beide Seiten des Atlantiks nachteilig. Die EU braucht auch eine eigenständige EU-Chinapolitik.
Aus solchen globalen und europäischen Herausforderungen ergibt sich auch die europapolitische Aufgabe, zu prüfen, welche institutionellen und politischen Reformen notwendig sind, um die Handlungsfähigkeit der EU zu gewährleisten. Die Münchner Sicherheitskonferenz hat den altbekannten Begriff der „Koalition der Bereitwilligen“ wieder belegt. Gerade in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik sollte die EU mit NATO-Verbündeten wie dem Vereinigten Königsreich prüfen, welche Projekte gemeinsam angegangen werden können. Somit bietet das Konzept der variablen Geometrien in Europa einen möglichen Lösungsansatz. Auch im Bereich der EU-Erweiterung sollte über mehr Flexibilität nachgedacht werden, um den Prozess voranzutreiben.
dbb europathemen: Was bedeutet der Wahlausgang für die Unterstützung der Ukraine?
Tekin: Grundsätzlich stellt der Wahlausgang die Unterstützung der Ukraine nicht in Frage. Es sollte dennoch Erwähnung finden, dass die Parteien mit einem merklichen Stimmenzuwachs eine Unterstützung der Ukraine nur bedingt befürworten. Die AfD sieht die Ukraine als neutralen Staat außerhalb der NATO und der EU und die Die Linke verweist auf das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine. Die Parteien, die gemäß dem Wahlergebnis nun aber eine Koalition bilden können, sprechen sich jedoch klar für die Unterstützung der Ukraine aus. Die SPD spricht sich klar für eine diplomatische, militärische, finanzielle und humanitäre Unterstützung aus. Die Positionen der CDU/CSU im Wahlprogramm sind etwas allgemeiner formuliert. Beide Parteien befürworten jedoch die Beitrittsperspektive der Ukraine. Die etwas strittigere Frage wird dann sein, wie solche Unterstützung zu finanzieren ist. Hier steht die Reform der Schuldenbremse in Deutschland oder die Aufnahme eines Sondervermögens im Raum. Die politischen Parteien sind alle zögerlich, sich zum jetzigen Zeitpunkt in Bezug auf eine deutsche Beteiligung bei einer möglichen Friedenssicherung zu positionieren. Der erste Schritt muss sein, die Europäer und die Ukraine an den Verhandlungstisch über einen Frieden zu bringen.