Kaum Beteiligung von Sozialpartnern und Zivilgesellschaft
Europäisches Semester: Zu wenige öffentliche Investitionen
Der Zyklus des Europäischen Semesters ist für die wirtschaftspolitische Koordinierung und eine allmähliche Angleichung der Lebensverhältnisse in der EU von großer Bedeutung.
Auch wenn die länderspezifischen Empfehlungen die Mitgliedstaaten zu keinen Strukturreformen verpflichten können, sind sie ein wichtiger Indikator für ihre jeweilige wirtschaftliche Entwicklung. Die Reformempfehlungen für die Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik sowie für Forschung und Innovation zielen auf Wachstumsförderung und die Ermittlung etwaiger makroökonomischer Ungleichgewichte ab. Dreh- und Angelpunkt des Europäischen Semesters ist die haushaltspolitische Koordinierung, die stabile Staatsfinanzen zum Ziel hat. Im Europäischen Semester spiegelt sich also immer auch der reformierte Stabilitätspakt.
Die Aufbau- und Resilienzfazilität (ARF), die 2021 einmalig im Rahmen des Programms „Next Generation EU“ dazu geschaffen wurde, die materiellen Folgen der Pandemie zu bewältigen, und der EU-Haushalt bzw. der Mehrjährige Finanzrahmen 2021-2027 unterstützen die Mitgliedstaaten bei ihren Reformen und für ihre Wettbewerbsfähigkeit nachhaltigen Investitionen, vornehmlich in den Klimaschutz und in die Digitalisierung. Diese Unterstützung ist aber insoweit konditioniert, als die Mitgliedstaaten bestimmte Reformziele erreichen müssen, die wiederum im Europäischen Semester überwacht werden. Insofern kommt dem Europäischen Semester seit der Schuldenaufnahme durch die EU größere Bedeutung zu. Deutschland hat keine Darlehen aus der ARF beantragt, verwendet aber die ihm anteilig zur Verfügung stehenden Zuschüsse. Die Priorisierung der Verwendung dieser Mittel erfolgt durch die Bundesregierung.
Der Länderbericht 2024, den die Europäische Kommission am 19. Juni für Deutschland veröffentlicht hat, betont fortbestehende makroökonomische Ungleichgewichte. Er kritisiert vor allem einen großen öffentlichen Investitionsstau. Die mangelnden Investitionen betreffen besonders die Bereiche Bildung, Infrastruktur und digitale Transformation.
In Deutschland gibt es hierzu keine umfassende Konsultation von Sozialpartnern und Zivilgesellschaft. Diese werden weder zum seit 2011 bestehenden klassischen Europäischen Semester noch zur Priorisierung innerhalb der ARF systematisch beteiligt. Es stellt sich die Frage, ob die Nichteinbeziehung von Sozialpartnern und organisierter Zivilgesellschaft, der Verzicht auf ihre Expertise, dazu führen kann, dass Mittel fehlalloziert werden. Dabei geht es nicht um Mitbestimmung, wohl aber um eine für die Entscheidungsfindung zweckdienliche Beteiligung.
Die öffentlich Bediensteten und ihre Gewerkschaften können viel Sachwissen einbringen. Die Finanzbeamtinnen und –beamten zum Beispiel wissen genau, wie der Staat durch eine wirksame Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuervermeidung Mehreinnahmen generieren kann. In den Verwaltungsgewerkschaften gibt es klare Vorstellungen einer digitalen Identität, eines bundeseinheitlichen Onlineportals für alle öffentlichen Dienstleistungen. Wenn es um das Arbeitskräftepotential und die Qualität der Bildung geht, haben die Lehrergewerkschaften einen sehr informierten Blick auf etwaige Defizite. Die genaue Kenntnis der praktischen Probleme dürfte für zielführende Reformen und Investitionen im Bereich Forschung und Innovation relevant sein.
Oftmals besteht eine hohe Diskrepanz zwischen erklärten politischen Zielsetzungen und der Realität vor Ort. So ist zum Beispiel die frühkindliche Erziehung von zentraler Bedeutung für die Entwicklung der Beschäftigungsquoten eines jeden EU-Mitgliedstaates, auch Deutschlands. Dass hier wie in vielen anderen Bereichen der Daseinsvorsorge trotz vollmundiger politischer Versprechen und rechtlicher Garantien nur noch der Mangel verwaltet wird, reduziert das Wachstumspotential Deutschlands signifikant.
In allen Verwaltungszweigen sind öffentlich Bedienstete tätig, die die Strukturprobleme des Landes sehr gut einschätzen können. Das gilt ganz besonders für das Schwerpunktziel der ARF, die Digitalisierung. In allen wichtigen Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge und der öffentlichen Infrastruktursysteme tragen Kolleginnen und Kollegen Verantwortung, die in den Mitgliedsgewerkschaften des dbb repräsentiert sind. Viele Reformthemen betreffen die Verwaltung ganz unmittelbar.
Dabei geht es auch um den Abbau unnötiger Bürokratie, unter der die öffentlich Bediensteten, die an das Gesetz gebunden sind, nicht weniger leiden als die Bürgerinnen und Bürger. Effizientere Verwaltungsprozesse könnten erhebliche Einsparungen und eine bessere Servicequalität für die Bevölkerung ermöglichen. Für die Perspektiven des europäischen Gemeinwesens wichtiger noch ist aber der Vertrauensverlust in die staatlichen und überstaatlichen Institutionen. Dass dieser tendenziell zunimmt, wenn die Menschen den Zerfall öffentlicher Infrastruktur und eine Verschlechterung der öffentlichen Daseinsvorsorge erleben, wurde auch jüngst wieder in der dbb/Forsa Bürgerbefragung öffentlicher Dienst belegt.
Die Stärkung des sozialen Dialogs und die aktive Einbindung der Zivilgesellschaft sind entscheidend für die erfolgreiche Umsetzung der im Europäischen Semester vorgeschlagenen Maßnahmen. Mehr Beteiligung, mehr Dialog, lautet also das Gebot der Stunde, auch und gerade im Europäischen Semester.