Im Gespräch mit EWSA-Präsident Oliver Röpke
Röpke zieht eine positive Bilanz seiner Amtszeit – und betont, wie wichtig eine starke Zivilgesellschaft für ein demokratisches, soziales und zukunftsfestes Europa ist.
dbb europathemen: Wie bewerten Sie die politischen Schwerpunkte der Kommission Von der Leyen II? Was finden Sie besonders gut, was sehen Sie skeptisch oder kritisch?
Röpke: Die Kommission Von der Leyen II hat zweifellos in mehreren Schlüsselbereichen wichtige Fortschritte erzielt. Ich begrüße insbesondere, dass die Kommission zunehmend die Bedeutung der Weiterentwicklung eines sozialen Europas sowie die zentrale Rolle der organisierten Zivilgesellschaft bei der Verbesserung von politischen Maßnahmen und ihrer Umsetzung anerkannt hat.
Ein Beispiel ist das dynamische Feld der Künstlichen Intelligenz: Ich begrüße ausdrücklich die Ankündigung der Kommission einer neuen Initiative zum algorithmischen Management, bei der das Prinzip „der Mensch bleibt in Kontrolle“ in der Arbeitswelt verankert werden soll. Dieses Konzept hat der EWSA seit langem vertreten – und gerade jetzt, wo die Sorgen der Arbeitnehmer über Überwachung, Kontrolle und Arbeitsplatzsicherheit im Zusammenhang mit Künstlicher Intelligenz wachsen, ist dies besonders wichtig. Die Pläne der Kommission bestätigen nicht nur die langjährigen Bemühungen des Ausschusses, sondern unterstreichen auch unsere zentrale Rolle bei der Gestaltung einer fairen und menschengerechten Zukunft der Arbeit. Diese Vision kann jedoch nicht ohne die aktive Beteiligung der Sozialpartner und der Beschäftigten selbst verwirklicht werden, denn sie sind entscheidend für die Entwicklung vertrauenswürdiger KI am Arbeitsplatz.
Ich freue mich auch, dass unsere wiederholten Forderungen nach der Benennung von zuständigen Kommissaren für Leistbares Wohnen und Wasser berücksichtigt wurden. Diese beiden Bereiche sind entscheidend für die Zukunft Europas und das Wohlergehen unserer Bürgerinnen und Bürger. Leistbares Wohnen und Wasser sind keine rein technischen Fragen – sie sind soziale Rechte, und es ist unerlässlich, sie zu politischen Prioritäten zu machen. Gleichzeitig habe ich auch Bedenken. Der Green Deal ist unverzichtbar, wurde jedoch nicht immer von ausreichenden sozialen Schutzmaßnahmen begleitet. Der Ausschuss hat wiederholt betont, dass es keinen Green Deal ohne einen Social Deal geben darf. Zudem hinkt die Umsetzung vieler positiver Initiativen oft hinterher – sei es aufgrund fehlender Finanzmittel oder mangelnden politischen Willens in einigen Mitgliedstaaten. Schließlich beunruhigt mich, dass grundlegende Prinzipien wie der soziale Dialog und die partizipative Demokratie mitunter durch technokratische oder rein marktorientierte Ansätze in den Hintergrund geraten.
dbb europathemen: Die europäische Gesellschaft ist stark polarisiert, die Zukunft der freiheitlichen Demokratie ungewiss. Beobachten Sie auch im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss eine Zunahme illiberaler Strömungen?
Röpke: Auch wenn es zutrifft, dass Europa zunehmender politischer Polarisierung ausgesetzt ist und liberale demokratische Werte in bestimmten Kontexten unter Druck geraten, würde ich nicht sagen, dass wir im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss eine signifikante Zunahme illiberaler Tendenzen beobachten. Im Gegenteil: Der EWSA bleibt eine feste Plattform für Dialog, Pluralismus und demokratische Teilhabe. Der Ausschuss war und ist ein ausgewogenes Forum, in dem unterschiedliche Ansichten koexistieren – stets auf der Grundlage eines gemeinsamen Bekenntnisses zu den Grundwerten der Europäischen Union. Wir bleiben eine offene Institution, die die Gesellschaft in all ihrer Komplexität repräsentiert und gleichzeitig Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit mit Nachdruck verteidigt.
Die große Stärke des EWSA liegt in seiner Verankerung in der Zivilgesellschaft, die trotz aller Herausforderungen eine bemerkenswerte Resilienz bei der Verteidigung demokratischer Werte zeigt. Durch unsere Arbeit stehen wir in direktem Austausch mit Organisationen auf lokaler Ebene, identifizieren Herausforderungen und geben Empfehlungen zur Stärkung der demokratischen Resilienz in der gesamten EU. Diese Stärke werden wir weiter pflegen und den Ausschuss als Raum für konstruktiven und inklusiven Dialog bewahren.
dbb europathemen: Was halten Sie von Forderungen nach einem strukturierten Dialog mit der europäischen Zivilgesellschaft?
Röpke: Die Zivilgesellschaft ist das Rückgrat der europäischen Demokratie – nicht nur ein Interessenträger, sondern ein unverzichtbarer Partner bei der Gestaltung von politischen Maßnahmen, die die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen widerspiegeln. Ihre Beteiligung ist entscheidend für die Legitimität der EU-Entscheidungen, damit die in Brüssel beschlossenen Gesetze auch in der Lebensrealität der Menschen ankommen. Ein starker Dialog zwischen den Institutionen und der Zivilgesellschaft ist nicht nur gutes Regieren – es ist der Weg, wie wir Vertrauen, Verbundenheit und dauerhafte demokratische Resilienz schaffen.
Zivilgesellschaftliche Organisationen haben im Laufe der Jahre immer wieder einen strukturierten institutionellen Rahmen für den zivilgesellschaftlichen Dialog gefordert – dies hat schließlich zur Aufnahme von Artikel 11 Absatz 2 des Vertrags über die Europäische Union geführt. Dennoch fehlt nach wie vor ein konkreter Rahmen für einen solchen Dialog.
Ich bin überzeugt, dass die Zivilgesellschaft nicht nur gelegentlich angehört werden darf – sie muss einen dauerhaften Platz am Tisch erhalten. Gerade in Zeiten sozialer Spannungen und sinkenden Vertrauens in die Institutionen ist Teilhabe der Schlüssel zur Wiederherstellung von Legitimität. Die Zivilgesellschaft ist kein Beiwerk – sie ist ein demokratischer Akteur. Wir brauchen Strukturen, die eine systematische Beteiligung der Zivilgesellschaft ermöglichen – über bloße Konsultationen und Anhörungen hinaus.
Gleichzeitig muss jeder Rahmen für den zivilgesellschaftlichen Dialog die Kompetenzen des sozialen Dialogs respektieren. Er darf die Rolle und die Zuständigkeiten der Sozialpartner, wie sie in den EU-Verträgen verankert sind, nicht überlagern, verwässern oder beeinträchtigen. Die Stärkung des zivilgesellschaftlichen Dialogs muss Hand in Hand mit der Stärkung des sozialen Dialogs gehen – nicht ihn ersetzen oder schwächen.
dbb europathemen: Was unterscheidet die Arbeit des EWSA vom europäischen sozialen Dialog?
Röpke: Der europäische soziale Dialog konzentriert sich im Wesentlichen auf die Sozialpartner, also auf Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Der EWSA hingegen versammelt ein viel breiteres Spektrum der organisierten Zivilgesellschaft. Neben Arbeitnehmern und Arbeitgebern sind bei uns auch Landwirte, Verbraucherorganisationen, Umweltverbände, Jugendorganisationen und viele andere vertreten. Der EWSA fungiert als Brücke zwischen der organisierten Zivilgesellschaft und den EU-Institutionen. Beide Prozesse ergänzen sich. Während der soziale Dialog vor allem für Verhandlungen zu Arbeits- und Industriefragen zuständig ist, bringt der EWSA die gesellschaftliche Perspektive in die Politikgestaltung ein, die über die Themen der Arbeitswelt hinausgeht.
dbb europathemen: Im September endet turnusgemäß Ihr Vorsitz des Ausschusses. Welche Perspektive sehen Sie für den EWSA als beratendes EU-Organ?
Röpke: Ich sehe eine starke und vielversprechende Zukunft für den EWSA. Während meiner Amtszeit haben wir gezeigt, dass sich der Ausschuss modernisieren und neu positionieren kann. Wir haben die Türen für junge Menschen und Kandidatenländer geöffnet, unsere Stimme zu Schlüsselthemen wie dem Blue Deal gestärkt und den EWSA als wichtigen Akteur zur Verteidigung der Demokratie und der sozialen Rechte etabliert. Die EU wird die Zivilgesellschaft in den kommenden Jahren mehr denn je brauchen – im Kampf gegen soziale Ungleichheit, Klimawandel und geopolitische Herausforderungen. Kommission und Parlament respektieren den EWSA wieder und beziehen uns in ihre Entscheidungsfindung ein. Unsere Reformen haben Sichtbarkeit und Einfluss des Ausschusses deutlich gestärkt. Ich wünsche mir, dass die nächste Führung auf diesem Schwung aufbaut und den EWSA noch stärker als Haus der Demokratie und Teilhabe etabliert – nicht nur als beratendes Organ.