Kroatien: Rechtsstaat auf der Kippe?
Eine EWSA-Delegation sprach mit Zivilgesellschaft und Regierung in Kroatien über Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Der Balkan-Staat macht seit seinem EU-Beitritt Rückschritte.
Eine mit Mängeln behaftete Demokratie sei Kroatien, urteilte der Demokratie Index 2021. Gerade mal auf Platz 56 schaffte es das Land mit seinen 3,9 Millionen Einwohnern, das am 1. Juli 2023 seit zehn Jahren Mitglied der EU sein wird. Nur Polen und Ungarn stehen noch schlechter da. Am 1. Januar 2023 führte Kroatien den Euro ein, wurde das Land, in dem die Korruption grassiert, auch Mitglied des Schengen-Raums. Die EU-Kommission bezeichnet den niedrigen Grad der Unabhängigkeit der kroatischen Justiz als besorgniserregend. Auch um die Pressefreiheit ist es nicht gut bestellt. Auf Platz 48 von 180 Staaten stand Kroatien 2022 auf der Rangliste der Pressefreiheit. Für einen EU-Staat ist das ein schlechtes Ranking. Der Lebensstandard der Kroatinnen und Kroaten ist relativ niedrig, liegt bei 50 Prozent des EU-Durchschnitts. Kroatien hat eine sehr niedrige Geburtenrate, und viele junge Menschen, besonders die gut ausgebildeten, zieht es in wohlhabendere EU-Staaten.
Keine einfache Ausgangslage für Cristian Pirvulescu (linkes Bild) und sein Team für Gespräche mit kroatischen Sozialpartnern, Zivilgesellschaft und Regierung über Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, wie sie am 30. und 31. März in Zagreb stattfanden. Pirvulescu, politischer Analyst und Professor an der Nationalen Schule für Politik und öffentliche Verwaltung in Bukarest, ist Vorsitzender der EWSA-Rechtsstaatsgruppe, in der auch der Vertreter des dbb im Ausschuss, Christian Moos, aktiv mitwirkt. Die Arbeiten dieser Gruppe ergänzen die jährlichen Rechtsstaatsberichte der Europäischen Kommission.
Die Gespräche fanden unter der Chatham-House-Regel in der Zagreber Vertretung der Europäischen Kommission statt. Die Teilnehmenden konnten sich also frei äußern, ohne befürchten zu müssen, direkt zitiert zu werden. Die erste Gesprächsrunde war dem sozialen Dialog gewidmet. Gewerkschaften und Arbeitgeber beklagten Mängel im Gesetzesvollzug, besonders beim Arbeitsschutz. Sie brachten nur geringes Vertrauen in die kroatische Justiz zum Ausdruck. Ähnlich äußerten sich auch zahlreiche Nichtregierungsorganisationen. Kroatien habe zwar wenig formale Probleme in der Rechtsetzung. Die Regierung wende das Recht aber nicht konsequent an, und auf die rechtsprechende Gewalt sei auch kein Verlass. Die Richterwahl sei intransparent, die Richter seien beeinflussbar, die Gerichtsverfahren langwierig und die Urteile teils willkürlich.
Auch zur Medienfreiheit gab es aus der Zivilgesellschaft unisono Kritik. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk unterliege der Kontrolle der Parlamentsmehrheit - und damit der Regierung, er berichte nicht neutral und gebe oppositionellen Stimmen wenig Raum für von der Regierungsmehrheit abweichende Positionen. Die Vergabe von Werbegeldern sei intransparent. Sowohl Medienvertreter als auch Nichtregierungsorganisationen betonten eine hohe Zahl missbräuchlicher Klagen an kroatischen Gerichten, mit denen etwa investigative Journalistinnen oder Menschenrechtsaktivisten mundtot gemacht werden sollen. Nach wie vor sei die Bereitschaft, sich auch mit den von Kroaten begangenen Kriegsverbrechen auseinanderzusetzen, sehr gering.
Im Verlauf des Sommers wird der EWSA einen ausführlichen Bericht veröffentlichen. Weitere Informationen zur Arbeit der EWSA-Rechtsstaatsgruppe finden sich hier.