Gastbeitrag
Wieso ist die Zusammenarbeit der Behörden mit der Zivilgesellschaft so wichtig?
Séamus Boland, Vorsitzender der Gruppe "Organisationen der Zivilgesellschaft" im EWSA, über zivilgesellschaftliches Engagement und den Staat.
Die Überschrift dieses Artikels ist bewusst als Frage formuliert. Sie spiegelt die Erfahrungen vieler Akteure der Zivilgesellschaft wider, die meinen, dass bestenfalls ein gesundes Spannungsverhältnis zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und Behörden besteht und schlimmstenfalls eine sehr ungesunde und disruptive Beziehung. Dass beides zutreffend sein kann, ist in keiner Weise meiner pessimistischen Einschätzung geschuldet, dass eine Zusammenarbeit unmöglich sei, sondern vielmehr der Erkenntnis, dass beide Akteure unterschiedliche Zielsetzungen verfolgen und deswegen oft in Konflikt geraten.
Die Behörden sind in der Regel dem Staatshaushalt, den Gesetzen und mitunter einem auf Wahlen beruhenden Mandat verpflichtet. Die Zivilgesellschaft manifestiert sich hauptsächlich in Freiwilligenorganisationen mit rechtlichen Governance-Strukturen, die ihrer Satzung, ihrem Gründungsauftrag und häufig dem kurzfristigen Ziel der Bewältigung einer bestimmten Krise verpflichtet sind.
Als Vorsitzender der Gruppe Organisationen der Zivilgesellschaft des EWSA habe ich viele Akteure der Zivilgesellschaft getroffen, die sich mit ganzer Kraft für Kampagnen, Projekte und oft für die wichtige, aber vielleicht auch bedrückende Aufgabe der Hilfe für Menschen in Not engagieren. Häufig arbeiten sie allein oder in Zusammenarbeit mit anderen gleichgesinnten Organisationen oder, wie während der COVID-19-Pandemie und des Ukraine-Kriegs deutlich wurde, in Zusammenarbeit mit Behörden. Der Vorteil der Mobilisierung zivilgesellschaftlicher Organisationen für die Zusammenarbeit mit Behörden liegt in der Geschwindigkeit: der Geschwindigkeit bei der Durchführung von Projekten– unabhängig davon, ob es sich um die Verteilung von Impfstoffen, die Beschaffung grundlegender Güter für die Menschen in der Ukraine oder um gemeinsame Kampagnen handelt, mit denen die Menschen zu mehr Eigenverantwortung für ihren Lebensstil bzw. ihre Gesundheit angehalten werden.
In dieser Hinsicht wurden im Zusammenhang mit COVID-19 und der Ukraine gute Erfahrungen gemacht. Das ist aber nicht der einzige Aspekt, der die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen kennzeichnet. Diese ist vielmehr mit den unterschiedlichsten Arten von Tätigkeiten in der Pflege und Betreuung verbunden: der Pflege und Betreuung von älteren Menschen, Menschen mit Behinderungen und vielen weiteren Gruppen, die aus unterschiedlichen Gründen schutzbedürftig sind. Werden jedoch nicht von allen Protagonisten des öffentlichen Lebens ernsthafte Schritte unternommen, bleibt diese Arbeit sporadisch und die Situation auf lange Sicht völlig unbefriedigend.
Auf EU-Ebene wurde eine umfassende Liste von Maßnahmen zur Unterstützung der von der Zivilgesellschaft übernommenen Aufgaben erstellt. In zahlreichen Studien wird hervorgehoben, dass die Intensität der Unterstützung und Anerkennung der Zivilgesellschaft durch den Staat eine maßgebliche Messgröße und ein Zeichen für eine gesunde Demokratie ist. Der Gesundheitszustand der Demokratie ist in allen Ländern insbesondere daran ersichtlich, ob Organisationen zugelassen sind, die auf Ungleichheiten in Bezug auf Menschenrechte und Freiheiten, die Versammlungs- und Meinungsfreiheit aufmerksam machen. Am anderen Ende der Skala steht die Frage, ob Organisationen unterdrückt werden, insbesondere solche, die auf Mängel bei der Umsetzung von Grundrechten in ihrem unmittelbaren Tätigkeitsbereich hinweisen.
Im EU-Kontext ist unter einer zivilgesellschaftlichen Organisation eine Organisationsstruktur zu verstehen, deren Mitglieder im Rahmen eines demokratischen Prozesses dem Gemeinwohl dienen und die eine Vermittlerrolle zwischen staatlichen Behörden und Bürgern einnimmt. Eine solche Vermittlerrolle wird stets im öffentlichen Interesse und im Rahmen einer strukturierten Partnerschaft ausgeübt, die durch geeignete Rechtsvorschriften getragen und durch verschiedene Finanzierungs- und Schulungsmaßnahmen unterstützt wird. So kann Menschen in Not rasch geholfen und die Bürgernähe der Behörden gestärkt werden. Es gibt Tausende von Freiwilligenorganisationen, die Mittel und Wege entwickelt haben, um auch schutzbedürftigen – und den oft am schwersten zu erreichenden Menschen zu helfen. Wenn wir uns vor Augen führen, dass allein in der EU immer noch mehr als 20 Millionen Menschen von Armut betroffen sind und sich die Lage nicht verbessert, müssen wir uns eingestehen, dass viele Menschen zurückgelassen werden. Eine ausgegrenzte Gruppe dieser Größenordnung birgt ein enormes Risiko für den Zusammenhalt unserer Gemeinschaften und Gesellschaften, sogar für die Werte, die das Fundament der Europäischen Union bilden. In einer Welt, in der die Demokratie immer zerbrechlicher wird und selbst innerhalb der EU bedroht ist, ist eine solide Partnerschaft zwischen Behörden und Organisationen der Zivilgesellschaft unerlässlich.
Die EU-Organe haben in den verbleibenden Monaten ihrer fünfjährigen Legislaturperiode noch Zeit, Maßnahmen zur Unterstützung zivilgesellschaftlicher Gruppen in Bezug auf die Finanzierung, zur rechtlichen Unterstützung und insbesondere zur Wahrung der Grundrechte und demokratischen Grundsätze zu ergreifen. Diese Grundrechte und Grundsätze sichern das Recht auf freie Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit und die Teilhabe an einem offenen, transparenten und regelmäßigen zivilen Dialog. Ein solcher Dialog sollte im Geiste einer echten Partnerschaft zwischen Organisationen und Behörden stattfinden.